"Ist ja gut, ist ja gut. Ja, reagier dich ab. Mann." Tschick drückte auf Neustart, aber es war aussichtslos. Er hatte überhaupt keinen Plan von dem Gelände. Man konnte stundenlang hinter ihm herlaufen, ohne dass er es merkte, und ich nietete ihn jedes Mal um wie blöd. Ich war so eine Art Weltmeister in Doom, und Tschick konnte wirklich gar nichts.
Er holte sich noch ein Bier.
"Und wenn wir einfach wegfahren?", fragte er.
"Was?"
"Urlaub machen. Wir haben doch nichts zu tun. Machen wir einfach Urlaub wie normale Leute."
"Wovon redest du?"
"Der Lada und ab."
"Das ist nicht ganz das, was normale Leute machen."
"Aber könnten wir, oder?"
"Nee. Drück mal auf Start."
"Warum den nicht?"
"Nee."
"Wenn ich dich krieg", sagte Tschick. "Sagen wir, wenn ich dich in fünf Runden einmal krieg. Oder in zehn Runden. Sagen wir zehn."
"Du kriegst mich in hundert nicht."
"In zehn."
Er gab sich große Mühe. Ich steckte mir eine Handvoll Chips in den Mund, wartete, bis er die Kettensäge hatte, und ließ mich zerteilen.
"Im Ernst", sagte ich. "Nehmen wir mal an, wir machen das."
Wir hatten fast den ganzen Tag rumgeballert. Wir waren zweimal im Pool gewesen. Tschick hatte mir von seinem Bruder erzählt, und dann hatte er das Bier im Kühlschrank entdeckt und sich drei Flaschen genehmigt. Ich hatte auch versucht, eins zu trinken. Ich hatte schon oft Bier probiert, abrer geschmeckt hatte es mir nie, und es schmeckte mir auch jetzt nicht. Drei Viertel der Flasche schaffte ich trotzdem. Aber hatte keine Wirkung auf mich.
"Und wenn die uns verraten?"
"Die verraten uns nicht. Außerdem, wenn sie's tun wollten, hätten sie's längst getan und Polizei wär hier. Die wissen ja nicht mal, dass der Lada geklaut war. Sie haben uns höchstens zehn Sekunden gesehen, die denken bestimmt, der gehört meinem Bruder oder so."
"Wo willst du denn überhaupt hin?"
"Ist doch egal."
"Wenn man wegfährt, wär irgendwie gut, wenn nan weiß, wohin."
"Wir könnten meine Verwandtschaft besuchen. Ich hab einen Großvater in der Walachei."
"Und wo wohnt der?"
"Wie, wo wohnt der? In der Walachei."
"Hier in der Nähe oder was?"
"Was?"
"Irgendwo da draußen?"
"Nicht irgendwo da draußen, Mann. In der Walachei."
"Das ist doch dasselbe."
"Was ist dasselbe?"
"Irgendwo da draußen und Walachei, das ist dasselbe."
"Versteh ich nicht."
"Das ist nur ein Wort, Mann.", sagte ich und trank den Rest von meinem Bier. "Walachei ist nur ein Wort! So wie Dingenskirchen. Oder Jottwehdeh."
"Meine Familie kommt von da."
"Ich denk, du kommst aus Russland?"
"Ja, aber ein Teil kommt auch aus der Walachei. Mein Großvater. Und meine Großtante und mein Urgroßvater und - was ist daran so komisch?"
"Jottwehdeh gibt's nicht, Mann! Jottwehdeh heißt: janz weit draußen. Und die Walachei gibt's auch nicht. Wenn du sagst, einer wohnt in der Walachei, dann heißt das: Er wohnt in der Pampa."
"Und die Pampa gibt's auch nicht?"
"Nein."
"Aber mein Großvater wohnt da."
"In der Pampa?"
"Du nervst, echt. Mein Großvater irgendwo am Arsch der Welt in einem Land, das Walachei heißt. Und da fahren wir morgen hin."
Er war wieder ganz ernst geworden, und ich wurde auch ernst. "Ich kenn hundertfünfzig Länder der Welt mit Hauptstädten komplett", sagte ich und nahm einen Schluck aus Tschicks Bierflasche. "Walachei gibt's nicht."
"Mein Großvater ist cool. Der hat zwei Zigaretten im Ohr. Und nur noch einen Zahn. Ich war da, als ich fünf war oder so."
"Was bist du denn jetzt eigentlich? Russe? Oder Walacheier oder was?"
"Deutscher. Ich hab'n Pass."
"Aber wo du herkommst."
"Aus Rostow. Das ist Russland. Aber die Familie ist von überall. Wolgadeutsche. Volksdeutsche. Und Banater Schaben, Walachen, jüdische Zigeuner - "
"Was?"
"Was, was?"
"Jüdische Zigeuner?"
"Ja, Mann. Und Schwaben und Walachen-"
"Gibt's nicht."
"Was gibt's nicht?"
"Jüdische Zigeuner. Du erzählst einen Scheiß. Du erzählst die ganze Zeit Scheiß."
"Überhaupt nicht."
"Jüdische Zigeuner, das ist wie englische Franzosen! Das gibt's nicht."
"Natürlich gibt's keine englische Franzosen", sagte Tschick. "Aber es gibt jüdische Franzosen. Und es gibt auch jüdische Zigeuner."
"Zigeunerjuden."
"Genau. Und die haben so'n Dings auf dem Kopf und fahren in Russland rum und verkaufen Teppiche. Kennt man doch, die mit dem Dings auf dem Kopf. Kippe auf dem Kopf."
"Kippe am Arsch. Ich glaub kein Wort."
"Kennst du nicht diesen Film mit Georges Aznavour?" Tschick wollte es mir jetzt wirklich beweisen.
"Film ist Film", bügelte ich ihn ab. "Im richtigen Leben kannst du nur entweder Jude sein oder Zigeuner."
"Aber Zigeuner ist keine Religion, Mann. Jude ist Religion. Zigeuner ist einer ohne Wohnung."
"Die ohne Wohnung sind zufällig Berber."
"Berber sind Teppiche", sagte Tschick.
Ich dachte lange nach, und als ich Tschick schließlich fragte, ob er wirklich jüdischer Zigeuner wäre, und er ganz ernst nickte, da glaubte ich es ihm.
Was ich aber nicht glaubte, war der Quatsch mit seinem Großvater. Da wusste ich eben, dass Walachei nur ein Wort war. Ich bewies Tschick auf hundert Arten, dass es die Walachei nicht gab, und ich spürte, wie meine Worte an Überzeugungskraft gewannen, wenn ich dazu ein paar großartige Gesten mit den Armen machte. Tschick machte die gleichen Gesten, und dann ging er nochmal Bier holen und fragte, ob ich auch noch eins wollte. Aber es hatte ja keine Wirkung auf mich, und ich wollte Cola.
Gerührt sah ich einer Fliege zu, die auf dem Tisch rumkrabbelte. Ich hatte den Eindruck, dass auch die Fliege gerührt war, weil ich gerührt war. Ich hatte mich wirklich noch nie so gut unterhalten. Tschick stellte zwei Flaschen auf den Tisch und sagte: "Du wirst ja sehen. Mein Großvater und meine Großtante und zwei Cousins und vier Cousinen und die Cousinen schön wie Orchideen - du wirst ja sehen."
Tatsächlich fing der Gedanke langsam an, mich zu beschäftigen. Aber kaum war Tschick gegangen, lösten sich die Cousinen und alles andere in Nebel auf und verschwanden, und zurück blieb ein elendes Gefühl. Geradezu das heulende Elend. Das hatte mit Tschick aber nichts zu tun. Das hatte mit Tatjana zu tun. Damit, dass ich überhaupt nicht wusste, was sie jetzt über mich dachte, und dass ich es vielleicht auch nie erfahren würde, und in diesem Moment hätte ich wirklich einiges dafür gegeben, in der Walachei zu sein oder sonst wo auf der Welt, nur nicht in Berlin.
Bevor ich ins Bett ging, klappte ich nochmal meinen Rechner auf. Ich fand vier Mails von meinem Vater, der sich beschwerte, dass ich mein Handy ausgeschaltet hatte und auch unten nicht ranging, und ich musste mir noch irgendwelche Ausreden für ihn ausdenken und erklären, dass alles super-okay war hier. Was es ja auch war. Und weil ich überhaupt keine Lust auf diese Mails hatte und mir nichts einfiel, tippte ich nebenbei noch bei Wikipedia "Walachei" ein. Und dann fing ich wirklich an, mir Gedanken zu machen.
Auf dem Rückweg von Werder hatte er den Lada wieder in der Straße abgestellt, wo er angeblich immer stand, das war nur zehn Minuten von unserem Haus. Direkt vor unseren Füßen lief ein Fuchs Richtung Stadtmitte. Ein Fahrzeug der Stadtreinigung zischte vorberi, eine Rentnerin mit Husten kam uns entgegen. Im Grunde fielen wir mehr auf, als wir bei Tag aufgefallen wären. Dreißig Meter vor dem Lada gab Tschick mir ein Zeichen, stehen zu bleiben, und ich drückte mich in eine Hecke und spürte mein Herz schlagen. Tschick zog einen gelben Tennisball aus der Tasche. Er presste den Ball auf den Türgriff des Lada und schlug mit der flachen Hand dagegen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wozu das gut sein sollte, aber Tschick zischte: "Profis am Werk!", und öffnete die Tür. Er winkte mich zu sich.
Dann hantierte er wieder mit den Kabeln, startete den Wagen und versuchte auszuparken, wobei er die vor und hinter uns mit der Stoßstange anstupste. Ich saß zusammengekauert auf dem Beifahrersitz und untersuchte den Tennisball. Ein ganz normaler Tennisball mit einem fingerdicken Loch drin.
"Und das geht bei jedem Auto?"
"Nicht bei jedem. Aber Zentralverriegelung - und Unterdruck." Er schrammte aus der Parklücke, und ich drückte und presste den Ball in meiner Hand und konnte es nicht fassen. Russen, dachte ich.
Zehn Minuten später luden wir den Lada voll. Unsere Garage hat direkten Zugang zum Haus, und wir schleppten alles da hin, was irgendwie sinnvoll schien. Zuerst einmal Brot, Knäckebrot und Brotaufstrich und so was und Konservendosen, weil wir dachten, dass wir ja vielleicht auch masl was essen würden. Dafür brauchten wir dann natürlich auch Teller und Messer und Löffel. Wir packten ein Drei-Mann-Zelt ein, Schlafsäcke und Isomatten. Die Isomatten zogen wir gleich wieder raus und ersetzten sie durch Luftmatrazen. Nach und nach wanderte das halbe Haus ins Auto, und dann fingen wir an, alles wieder rauszuschmeißen: Das meiste braucht man ja doch nicht. Es war ein großes Hin und Her. Wir stritten, ob man zum Beispiel Rollerblades brauchte oder nicht. Wenn uns mal das Benzin ausgehen würde, könnten einer dammit zur Tankstelle, meinte Tschick, abrer ich fand, da hätte man ja gleich das Klapprad einpacken können. Oder eine Fahrradtour machen. Ganz zum Schluss kamen wir noch auf die Idee, einen Kasten Wasser mitzunehmen, und das stellte sich am Ende als die beste Idee von allen raus. Oder die einzige überhaupt. Weil, alles andere war leider reiner Schwachsinn. Federballschläger, ein Riesenstapel Mangas, vier Paar Schuhe, der Werkzeugkoffer von meinem Vater, sechs Fertigpizzas. Was wir jedenfalls nicht mitnahmen, waren Handys. "Damit nicht jeder Schwanzlutscher und orten kann", sagte Tschick.
Und auch keine CDs. Der Lada hatte zwar riesige Lautsprecher hinten, aber nur einen verfilzten Kassettenrekorder, der unters Handschuhfach geschraubt war. Wobei ich, ehrlich gesagt, ganz froh war, dass ich Beyoncé nicht auch noch im Auto hören musste. Und natürlich nahmen wir auch die zweihundert Euro mit und dann noch alles Geld, das ich hatte, obwohl mir nicht ganz klar war, was wir damit wollten. In meiner Vorstellung fuhren wir durch menschenleere Gegenden, praktisch Wüste. Ich hatte nicht ganz genau geguckt bei Wikipedia, wie es da Richtung Walachei aussah. Aber dass da unten viel los wäre, kam mir eher unwahrscheinlich vor.