Dieses Haus in Werder gehörte einem Onkel von Tatjana und lag direkt am See, und dieser Onkel wollte Tatjana das Haus praktisch überlassen, es würden außer ihm keine Erwachsenen da sein, es würde die Nacht durchgefeiert, und alle sollten ihre Schlafsäcke mitbringen.
Das war natürlich ein großes Thema in der Klasse, Wochen vorher schon, und ich fing an, mich in Gedanken mit diesem Onkel zu beschäftigen. Ich weiß nicht mehr, warum der mich so faszinierte, aber ich dachte, das müsste ein ziemlich interessanter Typ sein, dass der Tatjana einfach so sein Haus überlässt und dass er auch noch verwandt mit ihr ist, und ich freute mich wahnsinnig darauf, ihn kennenzulernen. Icn sah mich schon immer mit ihm in seinem Wohnzimmer am Kamin stehen und supergepflegt Konversation machen. Dabei wusste ich ja nicht mal, ob es in dem Haus einen Kamin gab. Aber ich war nicht der Einzige, der aufgeregt war wegen dieser Party. Julia und Natalie überlegten schon lange vorher immer, was sie Tatjana schenken sollten, das konnte man auf den Zetteln lesen, die im Unterricht durch die Bänke gereicht wurden. Das heißt, ich konnte es lesen, weil ich in der direkten Verbindungslinie zwischen Julia und Natalie saß, und ich war natürlich wie elektrisiert von dieser Geschenkidee nd dachte selbst über nichts anderes mehr nach als darüber, was ich Tatjana zum Geburtstag schenken könnte. Julia und Natalie, das war schon mal klar, würden ihr die neue Beyoncé-CD schenken. Julia hatte Natalie eine Liste zum Ankreuzen geschickt, die ungefähr so aussah:
Und Natalie hatte ganz ober ihr Kreuz gemacht. Das war allgemein bekannt, Tatjana fand Beyoncé toll. Was ich erst mal ein bisschen problematisch fand, weil ich Beyoncé scheiße fand, jedenfalls die Musik. Aber immerhin sah sie phantastisch aus, sie hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit Tatjana, und deshalb fand ich Beyoncé dann irgendwann auch nicht mehr so scheiße. Im Gegenteil, ich fing an, Beyoncé zu mögen, und auch ihre Musik mochte ich auf einmal. Nein, das stimmt nicht. Ich fand die Musik super. Ich hatte mir eie letzten zwei CDs gekauft und hörte sie in Endlosschleife, während ich an Tatjana dachte und daran, mit was für einem Geschenk ich auf dieser Party auflaufen wollte. Irgendwas von Beyoncé konnte ich ihr auf keinen Fall schenken. Auf die Idee waren außer Julia und Natalie wahrscheinlich noch dreißig andere gekommen, und dann bekam Tatjana zum Geburtstag dreißig Beyoncé-CDs und konnte neunundzwanzig umtauschen. Ich wollte ihr irgendwas Besonderes schenken, aber mir fiel nichts ein, und erst als dieser Zettel zum Ankreuzen bei mir vorbeikam, da fiel es mir ein.
Ich ging zu Karstadt, kaufte eine ziemlich teure Modezeitschrift mit dem Gesicht von Beyoncé drauf und fing an zu zeichnen. Mit einem Lineal machte ich Bleistiftstriche senkrecht und waagerecht über das Gesicht, in regelmäßigen Abständen, bis kleine Quadrate auf dem ganzen Bild waren. Dann nahm ich ein riesigs Blatt Papier und zeichnete fünfmal so große Quadrate drauf. Das ist eine Methode, die ich aus einem Buch kenne. Alte Meister oder so. Damit kann man aus einem kleinen Bild ein ziemlich großes Bild machen. Man überträgt einfach Quadrat für Quadrat. Man könnte das natürlich auch auf einen Kopierer legen. Aber ich wollte, dass es gezeichnet ist. Wahrscheinlich wollte ich, dass man sieht, dass ich mir Mühe gemacht hab. Weil, wenn man das mit der Mühe sieht, kann man sich den Rest auch denken. Wochenlang arbeitete ich jeden Tag an dieser Zeichnung. Ich arbeitete wirklich hart. Nur mit Bleistift, und ich wurde immer aufgedrehter, weil ich beim Zeichnen an nichts anderes mehr denken konnte als an Tatjana und ihren Geburtstag und ihren supersympathischen Onkel, mit dem ich am Kamin umfassbar geistreiche Gespräche führte.
Und wenn ich auch nicht viel kann, zeichnen kann ich. Ungefähr so wie Hochsprung. Wenn Beyoncézeichnen und Hochsprung die wichtigsten Disziplinen auf der Welt wären, wäre ich ganz weit vorn. Im Ernst. Leider interessiert sich kein Mensch für Hochsprung, und bei der Zeichnerei kamen mir auch so langsam Zweifel. Nach vier Wochen harter Arbeit sah Beyonceé fast wie ein Foto aus, eine riesengroße Bleistift-Beyoncé mit Tatjanas Augen, und ich wäre wahrscheinlih der glücklichste Mensch im Universum gewesen, wenn ich jetzt noch eine Einladung auf Tatjanas Party bekommen hätte. Aber ich bekam keine.
Es war der letzte Schultag, und ich war etwas nervös, weil dieser ganze Partygedanke ja immer im Raum stand, alle redeten unaufhörlich über Werder bei Potsdam, aber es hatte noch keine Einladungen gegeben, oder ich hatte keine gesehen. Und man wusste ja gar nicht, wo genau das seinn sollte, so klein ist Werder ja auch wieder nicht. Idch hatte den Stadtplan längst im Kopf. Und deshalb dachte ich, dass Tatjana das am letzten Schultag irgendwie bekanntgeben würde. War aber nicht so.
Stattdessen sah ich in der Federtasche von Arndt, der zwei Reihen vor mir saß, ein kleines grünes Kärtchen. Das war in Mathe. Ixh sah, wie Arndt das grüne Kärtchen Kallenbach zeigte, und Kallenbach runzelte die Stirn, und ich konnte sehen, dass in der Mitte vom grünen Kärtchen ein kleiner Straßenplan war. Und dann bemerkte ich, dass alle diese grünen Kärtchen hatten. Fast alle. Kallenbach hatte auch keins, so blöd wie er guckte, allerdings guckte er ja immer blöd. Er war ja auch blöd. Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum er nicht eingeladen worden war. Kallenbach beugte sich tief über die Schrift, er wqr kurzsichtig und setzte aus irgendeinem Grund nie ie Brille auf, und Arndt nahm ihm das Ding wieder weg und steckte es zurück in seine Federtasche. Wie sich später rausstellte, waren Kallenbach und ich nicht die Einzigen ohne Einladung. Der Nazi hatte auc keine, Tschichatschow nicht, und dann noch ein oder zwei. Logisch. Die größten Langweiler und Asis waren nicht eingeladen. Russen, Nazis und Idioten. Und ich musste nicht lange überlegen, was ich in Tatjanas Augen wahrscheinlich war. Weil, ich war ja weder Russe noch Nazi.
Aber sonst war praktisch die ganze Klasse eingeladen, und dann noch die halbe Parallelklasse und garantiert noch hundert Leute, und ich war nicht eingeladen.
Bis zur letzten Schulstunde und bis nach der Zeugnisverleihung hoffte ich immer noch. Ich hoffte, dass alles ein Irrtum war, dass Tatjana nach dem Klingeln auf mich zukommen und sagen würde: "Psycho, Mann, ich hab ja ganz vergessen! Hier ist das grüne Kärtchen! Ich hoffe, du hast Zeit, es würde mich todunglücklich machen, wenn ausgerechnet du nicht kommen könntest - und du hast hoffentlich an mein Geschenk gedacht? Ja, auf dich ist Verlass! Also, bis dann, ich freu mich wahnsinnig, dass du kommst! Fast hätte ich dich vergessen, mein Gott!" Dann klingelte es, und alle gingen nach Hause. Ich packte lange und umständlich meine Sachen zusammen, um Tatjana die letzte Gelegenheit zu geben, ihren Irrtum zu bemerken.
Auf den Gängen standen nur noch die Dicken und die Intelligenten und unterhielten sich über ihre Zeugnisse und irgendeinen Stuss, und am Ausgang - zwanzig Meter hinter dem Ausgang - hatte jemand auf meine Schulter und sagte: "Übertrieben geile Jacke." Es war Tschick. Beim Grinsen sah man zwei große Zahnreihen, und die Schlitzaugen waren noch schmaler als sonst. "Kauf ich dir ab. Die Jacke. Bleib mal stehen."
Ich blieb nicht stehen, aber ich hörte, wie er mir nachlief.
"Lieblingsjacke", sagte ich. "Unverkäuflich." Ich hatte die Jacke bei Humana entdeckt und für fünf Euro gekauft, und es war wirklich meine Lieblingsjacke. Irgend so ein China-Teil, auf der Brust ein weißes Drachenmuster, das wahnsinnig billig aussah. Aber auch wahnsinnig toll. Im Grunde die ideale Jacke für Asis. Und darum mochte ich sie auch so, da sah man nicht gleich auf den ersten Blick, dass ich das genaue Gegenteil eines Asis war: reich, feige, wehrlos.
"Wo gibt's denn die? Hey, halt doch mal an! Wo läufst du hin?" Er brüllte über den ganzen Hof und fand das offenbar komisch. Es klang, als hätte man ihm außer Alkohol noch was gegeben. Ich bog in die Weidengasse ein.
"Bist du sitzengeblieben?"
"Was schreist du denn so?"
"Bist du sitzengeblieben?"
"Nee."
"Du guckst so."
"Wie gucke ich?"
"Als ob du sitzengeblieben wärst."
Was wollte der denn von mir? Ich ertappte mich bei den Gedanken, dass ich es gut fand, dass Tatjana ihn nicht eingeladen hatte.
"Aber lauter Fünfen", sagte er.
"Keine Ahnung."
"Wie, keine Ahnung? Wenn ich dich nerv, mach Meldung."
Ich sollte melden, dass er mich nervte? Und dann kriegte ich eins in die Fresse oder was?
"Weiß ich nicht."
"Du weißt nicht, ob ich dich nerv?"
"Ob ich lauter Fünfen hab."
"Im Ernst?"
"Ich hab noch nicht reingeguckt."
"In dein Zeugnis?"
"Nein."
"Du hast in dein Zeugnis nidht reingeguckt?"
"Nein."
"Echt? Du hast dein Zeugnis gekriegt und nicht reingeguckt? Wie cool ist das denn." Er machte große Armbewegungen beim Sprechen, während er neben mir herging, und zu meiner Überraschung war er nicht größer als ich. Nur stämmiger.
"Und du verkaufst die Jacke also nicht?"
"Nein."
"Und was machst du jetzt?"
"Nach Hause."
"Und danach?"
"Nichts."
"Und dann?"
"Geht dich einen Scheiß an." Jetzt, wo ich begriffen hatte, dass er mich nicht abziehen wollte, wurde ich sofort mutiger. Das ist leider immer so. Solange die Leute unfreundlich sind, kann ich vor Aufregung kaum laufen. Aber wenn sie auch nur ein bisschen freundlich werden, fang ich immer gleich an, sie zu beleidigen.
Ein paar hundert Meter ging Tschick schweigend neben mir her, dann zupfte er mich am Ärmel, wiederholte, dass das eine übertrieben geile Jacke wäre, und schlug sich seitwärts in die Büsche. Ich sah ihn über die Wiese in Richtung der Hochhäuser stapfen, die Plastiktüte, die seine Schultasche war, über die rechte Schulter gehängt.
Nach einer Weile blieb ich stehen und sackte auf den Bordstein. Ich hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Ich wollte nicht, dass es ein Tag wie alle anderen war. Es war ein besonderer Tag. Ich brauchte eine Ewigkeit.
Als ich die Tür aufschloss, war niemand da. Ein Zettel lag auf dem Tisch: Essen im Kühlschrank. Ich packte meine Sachen aus, guckte kurz in mein Zeugnis, legte die Beyoncé-CD ein und kroch unter meine Bettdecke. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob die Musik mich tröstete oder noch mehr deprimierte. Ich glaubd, sie deprimiergte mich noch mehr.
Ein paar Stunden später ging ich zurück zur Schule, um mein Fahrrad zu holen. Im Ernst, ich hatte mein Fahrrad vergessen. Mein Schulweg war zwei Kilomeer lang, und manchmal ging ich zu Fuß, wenn mir danach war, ab an diesem Tag war ich nicht zu Fuß gegangen. Ich war so in Gedanken gewesen, als Tschick mich angequatscht hatte, dass ich einfach mein Fahrrad auf- und wieder zugeschlossen hatte und losmarschiert war. Es war wirklich ein Elend.
Zum dritten Mal an diesem Tag führte mich der Weg vorbei an dem großen Sandhügel und an dem Spielplatz, wo das Brachland beginnt. Da setzte ich mich auf den Indianerturm. Ein riesiger Holzturm, den sie mit einem halben Fort zusammen da hingebaut haben, damit kleine Kinder Cowboy und Indianer spielen könnten, wenn es irgendwo kleine Kinder gäbe. Aber ich habe noch nie ein Kind da gesehen. Auch keine Jugendlichen oder Erwachsenen. Nich mal Junkies übernachten da. Nur ich sitz manchmnal oben auf dem Turm, wo mich keiner sehen kann, wenn's mir scheiße geht. Im Osten sieht man die Hochhäuser von Hellersdorf, im Norden läuft hinter den Sträuchern die Weidengasse, und etwas dahinter ist noch eine Kleingartenkolonie. Aber rund um den Spielplatz ist nichts, ein riesiges Brachland, das ursprünglich mal Bauland war. Da sollten einmal Einfamilienhäuser entstehen, wie man auf einem großen, verwitterten Schild noch lesen kann, das umgekippt neben der Straße liegt. Weiße Würfel mit rotem Dach, kreisrunde Bäume und daneben die Aufschrift: Hier entstehen 96 Einfamilienhäuser. Weiter unten ist von hochrentablen Anlageobjekten die Rede, und ganz unten steht irgendwo auch Immobilien Klingenberg.
Aber eines Tages wurden auf der Wiese drei ausgestorbene Insekten, ein Frosch und ein seltener Grashalm entdeckt, und seitdem prozessieren die Naturschützer gegen die Baufirmen und die Baufirmen gegen die Naturschützer, und das Land liegt brach. Die Prozesse laufen seit zehn Jahren, und wenn man meinem Vater glauben darf, werden sie auch noch zehn Jahre laufen, weil gegen diese Ökofaschisten ist das Wort von meinem Vater. Mittlerweile lässt er die Silbe Öko auch weg, weil diese Prozesse ihn ruiniert haben. Ein Viertel des Baulandes hat nämlich ihm gehört, und mit diesem Land hat er sich in die Scheiße prozessiert. Wenn bei uns zu Hause am Mittagstisch mal ein Fremder zugehört hätte, der hätte kein Wort verstanden. Jahrelang redete mein Vater immer nur von Scheiße, Wichsern und Faschisten. Wie viel Verlust er bei der Sache gemacht hatte und wie sich das auf uns auswirken würde, war mir lange nicht klar. Ich dachte immer, mein Vater prozessiert sich aus der Sache auch wieder raus, und vielleicht hat er das auch selbst gedacht, am Anfang. Aber dann hat er das Handtuch geworfen und seine Anteile verkauft. Da hat er nochmal Riesenverluste gemacht, aber er war der Meinung, dass die Verluste noch riesiger geworden wären, wenn er weiterprozessiert hätte, und deshalb hat er alles weit unter Wert an die Wichser verkauft. Wobei das jetzt das Wort für seine Kollegen ist. Die Wichser, die weiterprozessiert haben. Das war vor anderthalb Jahren. Und seit eine Jahr ist klar: dass das der Anfang vom Ende war. Um die Verluste aus der Weidengasse aufzufangen, hat mein Vater mit Aktien spekuliert, und jetzt sind wir pleite, der Urlaub ist gestrichen, und das Haus, das uns gehört, gehört uns wahrscheinlich schon lange nicht mehr. Sagt mein Vater. Und das alles wegen drei Raupen und einem Grashalm.
Das Einzige, was von der ganzen Aktion übrig geblieben ist, ist der Spielplatz, der gleich am Anfang gebaut wurde, um die Kinderfreundlichkeit von Marzahn auszudrücken. Leider vergeblich.
Und okay, ich gebe zu, es gibt noch einen anderen Grund, warum ich von diesem Spielplatz angefangen hab. Weil man in Wirklichkeit auch zwei weiße Mietshäuser stehen hinter der Kleingartenkolonie, irgendwo hinter den Bäumen, und in einem davon wohnt Tatjana. Ich wusste zwar nie, wo ganz genau, aber es gibt ein kleines Fenster ober links, wo in der Dämmerung immer ein grünes Licht angeht, und aus irgendwelchen Gründen hab ich mir eingebildet, dass das Tatjanas Zimmer ist. Und deshalb sitze ich manchmal auf dem Indianerturm und warte auf das grüne Licht. Wenn ich vom Fußballtraining komm oder vom Nachmittagsunterricht. Dann schau ich zwischen den Brettern durch udn schnitze mit meinem Haustürschlüssel Buchstaben ins Holz, und wenn das Licht aufleuchtet, wird mir immer ganz warm ums Herz, und wenn es nicht leuchtet, ist das jedes Mal eine Riesenenttäuschung.
Aber an diesem Tag war es noch zu früh, und ich wartete nicht, sondern ging den Weg zur Schule. Da stand mein Fahrrad einsam und allein in dem kilometerlangen Fahrradständer. Am Fahnenmast hing schlapp die Fahne, und in dem ganzen Gebäude war niemand mehr. Nur der Hausmeister zog weiter hinten zwei Müllcontainer zur Straße. Ein Cabrio mit Türken-Hiphop gondelte vorbei. Und wo würde es jetzt für den Rest des Sommers bleiben. Sechs Wochen keine Schule. Sechs Wochen keine Tatjana. Ich sah mich schon an einem Strick vom Indianerturm baumeln.
Wieder zu Hause, wusste ich nicht, was ich machen sollte. Ich versuchte das Licht an meinem Fahrrad zu reparieren, das schon lange kaputt war, aber ich hatte die Ersatzteile nicht. Ich legte Survivor ein und fing an, die Möbel in meinem Zimmer umzustellen. Ich stellte das Bett nach vorn und den Schreibtisch nach hinten. Dann ging ich wieder runter und versuchte nochmal, das Licht zusammenzuflicken, aber es war aussichtlos, und dann schmiss ich das Werkzeug in die Blumen und ging wieder hoch und warf mich auf mein Bett und schrie. Das war der erste Tag der Ferien, und ich war praktisch schon am Durchdrehen. Irgendwann holte ich die Beyoncé-Zeichnung raus. Ich schaute sie lange an, hielt sie mit zwei Händen vor mich hin und fing ganz langsam an, sie zu zerreißen. Als der Riss an Beyoncés Stirn war, hörte ich auf und heulte. Was dann war, weiß ich nicht mehr. Ich weiß noch, dass ich irgendwann aus dem Haus rannte und in den Wald rein und den Hügel rauf, und dann fing ich an zu joggen. Ich joggte nicht wirklich, ich hatte keine Sportsachen an, aber ich überholte ungefähr zwanzig Jogger pro Minute. Ich rannte einfach durch den Wald und schrie, und alle anderen, die durch den Wald rannten, gingen mir wahnsinnig auf die Nerven, weil sie mich hörten, und als mir dann auch noch einer entgegenkam, der mit Skistöcken spazieren ging, fehlte wirklich nur ein Hauch, und ich hätte ihm seine Scheißstöcke in den Arsch gekickt.
Zu Hause stand ich stundenlang unter der Dusche. Danach fühlte ich mich etwas besser, etwa so wie ein Schiffbrüchiger, der wochenlang auf dem Atlantik treibt, und dann kommt ein Kreuzschiff vorbei und jemand wirft eine Dose Red Bull runter und das Schiff fährt weiter - so ungefähr.
Unten ging die Haustür.
"Was liegt da draußen rum?", brüllte mein Vater.
Ich versuchte, ihn zu ignorieren, aber es war schwierig.
"Soll das da liegen bleiben?"
Er meinte das Werkzeug. Also ging ich wieder runter, nachdem ich in den Spiegel geguckt hatte, ob meine Augen noch rot waren, und als ich unten ankam, stand ein Taxifahrer vor der Tür und kratzte sich im Schritt.
"Geh rauf und sag deiner Mutter Bescheid", sagte mein Vater. "Hast du dich überhaupt schon verabschiedet? Du hast nicht mal dran gedacht, oder? Los, geh! Geh!"
Er schubste mich die Treppe rauf. Ich war sauer. Aber mein Vater hatte leider recht. Ich hatte das mit meiner Mutter komplett vergessen. Die letzten Tage hatte ich es immer noch gewusst, aber in der Aufregung heute hatte ich es vergessen. Meine Mutter musste wieder für vier Wochen in die Klinik.
Sie saß im Schlafzimmer im Pelzmantel vor dem Spiegel, und sie hatte sich nochmal ordentlich aufgetankt. In der Klinik gab es ja nichts. Ich half ihr hoch und trug ihren Koffer runter. Mein Vater trug den Koffer zum Taxi, und kaum war das Taxi weg, telefonierte er ihr gleich hinterher, als ob er sich wahnsinnig Sorgen um sie machen würde. Aber das war nicht der Fall, wie sich bald rausstellte. Meine Mutter war noch keine halbe Stunde weg, da kam mein Vater auf mein Zimmer und hatte dieses Dackelgesicht, und dieses Dackelgesicht bedeutet: Ich bin dein Vater. Und ich muss mit dir über was Wichtiges sprechen. Was nicht nur dir unangenehm ist, sondern auch mir.
So hatte er mich vor ein paar Jahren angeguckt, als er meinte, mit mir über Sex sprechen zu müssen. So hatte er mich angeguckt, als er wegen einer Art Katzenhaarallergie nicht nur unsere Katze, sondern auch meine beiden Kaninchen im Garten und die Schildkröte irgendwo versenkte. Und so guckte er auch jetzt.
"Ich erfahre gerade, dass ich einen Geschäftstermin habe", sagte er, als würde ihn das selbst am meisten verwirren. Tiefe Dackelfurchen auf der Stirn. Er redete ein bisschen rum, aber die Sache war ganz einfach. Die Sache war, dass er mich vierzehn Tage allein lassen wollte.
Ich machte ein Gesicht, das ausdrücken sollte, dass ich ungeheuer schwer darüber nachdenken musste, ob ich diese Hiobsbotschaft verkraften konnte. Konnte ich das verkraften? Vierzehn Tage allein in dieser feindlichen Umwelt aus Swimmingpool, Klimaanlage, Pizzadienst und Videobeamer? Ja, doch, ich nickte betrübt, ich könnte es versuchen, ja, ich würde es wahrscheinlich überleben.
Das Dackelgesicht entspannte sich nur kurz. Ich hatte es wohl etwas übertrieben.
"Und dass du keinen Scheiß machst! Glaub nicht, dass du Scheiß machen kannst. Ich lass dir zweihundert Euro hier, die liegen schon unten in der Schale, und wenn irgendwas ist, rufst du sofort an."
"Bei deinem Geschäftstermin."
"Ja, bei meinem Geschäftstermin." Es sah mit wütend an.
Am Nachmittag machte er wieder scheinbesorgte Anrufe bei meiner Mutter, und noch während er mit ihr telefonierte, kam seine Assistentin, um ihn abzuholen. Ich ging sofort runter, um zu gucken, ob es immer noch die gleiche war. Diese Assistentin ist nämlich extrem gut aussehend, und sie ist nur ein paar Jahre älter als ich, also neunzehn vielleicht. Und sie lacht immer. Sie lacht wahnsinnig viel. Ich hab sie vor zwei Jahren zum ersten Mal getroffen, bei einem Besuch im Büro von meinem Vater, und da hatte sie mir sofort in meinen Haaren gewuschelt und gelacht, während ich meine rechte und linke Gesichtshälfte, meine Hände und meine nackten Füße der Reihe nachg auf den Kopierer legte. Das machte sie jetzt leider niht mehr, mit in den Haaren wuscheln.
Sie stieg nur mit Shorts und einem knallengen Pullover aus dem Auto, und es war völlig klar, was für eine Sorte Geschäftsreise das werden sollte. Der Pullover war so eng, dass man praktisch alle Details sehen konnte. Okay fand ich immerhin, dass mein Vater gar nicht erst versuchte, irgendein großes Theater abzuziehen. Hatte er eigentlich auch nicht nötig. Zwischen meinen Eltern war so weit alles klar. Meine Mutter wusste, was mein Vater machte. Und wenn sie allein waren, schrien sie sich an.
Was ich lange nicht begriff, war, warum sie sich nicht scheiden ließen. Eine Weile hatte ich mir eingebildet, ich wäre der Grund dafür. Oder das Geld. Aber irgendwann kam ich zu dem Schluss, dass sie sich gern anschrien. Dass sie gerne unglücklich waren. Das hatte ich irgendwo in einer Zeitschrift gelesen: dass es Leute gibt, die gerne unglücklich sind. Also die glücklich sind, wenn sie unglücklich sind. Wobei ich zugeben muss, dass sich das nicht ganz kapiert hab. Irgendwas daran leuchtete mir sofort ein. Aber irgendwas leuchtete mir auch nicht ein.
Und eine bessere Erklärung ist mir für meine Eltern noch nicht eingefallen. Ich hab wirklich viel darüber nachgedacht, ich hab am Ende richtig Kopfschmerzen bekommen vom Nachdenken. Das war wie 3-D-Bilder angucken, wo man auf so ein Muster schielen muss, und plötzlich sieht man irgendwas Unsichtbares. Andere Leute konnten das immer besser als ich, bei mir geht das fast gar nicht, umd immer gerade in dem Moment, wo ich das Unsichtbare sehe, was meistens eine Blume ist oder ein Reh oder so was, verschwindet es sofort wieder, und ich kriege Kopfschmerzen. Und genau so ist das beim Nachdenken über meine Eltern auch, und ich kriege Kopfschmerzen davon. Und deshalb denke ich nicht mehr darüber nach.
Während mein Vater seine Koffer packte, stand ich unten mit Mona und machte Konversation. Sie heißt nämlich Mona, die Assistentin, und das Erste, was sie zu mir sagte, war, wie heiß es geworden wäre und wie viel heißer es die nächsten Tage noch werden sollte. Das Übliche. Aber als sie erfuhr, dass ich meine Ferien nun allein verbringen musste, guckte sie mich so traurig an, dass mir fast die Tränen kamen über mein eigenes grausames Schicksal. Verlassen von den Eltern und Gott und der Welt! Ich dachte darüber nach, sie zu bitten, mir noch einmal durch die Haare zu wuscheln wie damals am Kopierer. Aber ich traute mich nicht. Stattdessen starrte ich die ganze Zeit haarscharf an diesem knallengen Pullover vorbei in die Landschaft und hörte Mona darüber reden, was für ein verantwortungsvoller Mensch mein Vater wäre und so weiter. Es hatte nicht nur Vorteile, älter zu werden.
Ich war noch tief in meine Landschaftsbetrachtung versunken, als mein Vater mit dem Koffer die Treppen runterkam.
"Bedauer ihn bloß nicht", sagte er. Er gab mir nochmal die gleichen Ratschläge, die er mir schon vorher gegeben hatte, erzählte zum dritten Mal, wo er die zweihundert Euro hingepackt hatte, und dann legte er seinen Arm um Monas Taille und ging mit ihr zum Auto. Das hätte er sich allerdings sparen können. Den Arm um ihre Taille legen, meine ich. Ich fand es gut, dass sie keine riesige Heimlichtuerei veranstalteten. Aber solange sie auf unserem Grundstück waren, hätte er nicht den Arm um ihre Taille legen müssen. Meine Meinung. Ich knallte die Tür zu, schloss die Augen und stand eine Minute lang völlig still. Dann warf ic mich auf die Fliesen und schluchzte.
"Mona!" rief ich. Und es schnürte mir die Kehle zu. "Ich muss dir etwas gestehen!" Im leeren Windfang hatte meine Stimme einen beängstigenden Hall, und Mona, die es schon geahnt zu haben schien, dass ich ihr etwas gestehen musste, hielt sich entsetzt die Hände vor den Mund. Ihr Pullover hob und senkte sich aufgeregt.
"O Gott, o Gott!", rief sie.
"Du darfst das nicht falsch verstehen", schluchzte ich, "ich würde doch niemals freiwillig für die CIA arbeiten! Aber sie haben und in der Hand - verstehst du?" Und natürlich verstand sie das. Weinend brach sie neben mir zusammen. "Aber was sollen wir denn machen?", rief sie verzweifelt.
"Wir können nichts machen!", antwortete ich. "Wir können nur ihr Spiel mitspielen. Das Wichtigste ist, die Fassade aufrechtzuerhalten. Du musst dir immer klarmachen, dass ich jetzt ein Achtklässler bin und wie ein Achtklässler aussehe und dass wir einfach normal unser Leben weiterleben, mindestens noch ein, zwei Jahre, als ob wir uns überhaupt nicht kennen!"
"O Gott, o Gott!", rief Mona und umklammerte schluchzend meinen Hals. "Wie konnte ich nur an dir zweifeln?"
"O Gott, o Gott!" rief ich, und presste meine Stirn auf die kalten Fliesen und krümmte mich auf den Boden und heulte noch ungefähr eine halbe Stunde lang. Danach ging es mir besser.