Ich konnte Tschick von Anfang an nicht leiden. Keiner konnte ihn leiden. Tschick war ein Asi, und genau so sah er auch aus. Wagenbach schleppte ihn nach Ostern in die Klasse, und wenn ich sage, er schleppte ihn in die Klasse, dann meine ich das auch so. Erste Stunde nach den Osterferien: Geschichte. Alle saßen auf ihren Stühlen wie festgetackert, weil, wenn einer ein autoritäres Arschloch ist, dann Wagenbach. Wobei Arschloch jetzt eine übertreibung ist, eigentlich ist Wagenbach ganz okay. Er macht okayen Unterricht und ist wenigstens nicht dumm, wie die meisten anderen, wie Wolkow zum Beispiel. Bei Wagenbach hat man keine Mühe, sich zu konzentrieren. Und man tut gut daran, weil, Wagenbach kann Leute richtig auseinandernehmen. Das weiß jeder. Selbst die, die ihn noch nie hatten. Bevor ein Fünftklässler zum ersten Mal das Hagecius-Gymnasium betritt, weiß er schon: Wagenbach, Achtung! Da ist es mucksmäuschenstill. Bei Schürmann klingelt immer mindestens fünf Mal in der Stunde ein Handy. Patrick hat es sogar mal geschafft, bei Schürmann seinen Klingelton neu einzustellen - sechs, sieben, acht Töne hintereinander, bis Schürmann um ein wenig mehr Ruhe bat. Und auch da hat er sich nicht getraut, Patrick scharf anzugucken. Wenn bei Wagenbach ein Handy klingelt, kann derjenige sicher sein, die große Pause nicht lebend zu erreichen. Es gibt sogar das Gerücht, dass Wagenbach früher mal einen Hammer dabeihatte, um Handys zu zerkloppen. Ich weiß nicht, ob das stimmt.

Wagenbach kam also rein in dem schlechten Anzug und mit der braunen Kacktasche unterm Arm wie immer, und hinter ihm her schleppte sich dieser Junge, der wirkte, als wäre er kurz vorm Koma oder so. Wagenback knallte seine Tasche aufs Pult und drehte sich um. Er wartete mit zusammengezogenen Augenbrauen, bis der Junge langsam herangeschlurrt war, und sagte dann: "Wir haben hier einen neuen Mitschüler. Sein Name ist Andrej -"

Und dann schaute er auf seinen Notizzettel, und dann schaute er wieder den Jungen an. Offenbar sollte der seinen Nachnamen selber sagen. Aber der Junge guckte mit seinen zwei Schlitzaugen durch den Mittelgang ins Nichts und sagte auch nichts.

Und vielleicht ist es nicht wichtig zu erwähnen, was ich dachte in diesem Moment, als ich Tschick zum ersten Mal sah, aber ich will es trotzdem mal dazusagen. Ich hatte nämlich einen extrem unguten Eindruck, wie der da neben Wagenbach auftauchte. Zwei Arschlöcher auf einem Haufen, dachte ich, obwohl ich ihn ja gar nicht kannte und nicht wusste, ob er ein Arschloch war. Er war ein Russe, wie sich dann rausstellte. Er war so mittelgroß, trug ein schmuddeliges weißes Hemd, an dem ein Knopf fehlte, 10-Euro-Jeans von KiK und braune, unförmige Schuhe, die aussahen wie tote Ratten. Außerdem hatte er extrem hohe Wangenknochen und statt Augen Schlitze. Diese Schlitze waren das Erste, was einem auffiel. Sah aus wie ein Mongole, und man wusste nie, wo er damit hinguckte. Den Mund hatte er auf einer Seite leicht geöffnet, es sah aus, als würde in dieser öffnung eine unsichtbare Zigarette stecken. Seine Unterarme waren kräftig, auf dem einen hatte er eine große Narbe. Die Beine relativ dünn, der Schädel kantig.

Niemand kicherte. Bei Wagenbach kicherte sowieso niemand. Aber ich hatte den Eindruck, dass auch ohne Wagenbach keiner gekichert hätte. Der Russe stand einfach da und sah aus seinen Mongolenaugen irgendwohin. Und er ignorierte Wagenbach komplett. Das war auch schon eine Leistung, Wagenbach zu ignorieren. Das war praktisch unmöglich.

"Andrej", sagte Wagenbach, starrte auf seinen Zettel und bewegte lautlos die Lippen. "Andrej Tsch... Tschicha... tschoroff."

Der Russe nuschelte irgendwas.

"Bitte?"

"Tschichatschow", sagte der Russe, ohne Wagenbach anzusehen.

Wagenbach zog Luft durch ein Naseloch.

"Schön, Tschischaroff. Andrej. Willst du uns vielleicht kurz was über dich erzählen? Woher du herkommst, auf welcher Schule du bisher warst?"

Das war Standard. Wenn Neue in die Klasse kamen, mussten sie erzählen, wo sie her waren und so. Und jetzt ging die erste Veränderung mit Tschick vor. Er drehte den Kopf ganz leicht zur Seite, als hätte er Wagenbach erst in diesem Moment bemerkt. Er kratzte sich am Hals, drehte sich wieder zur Klasse und sagte: "Nein." Irgendwo fiel eine Stecknadel zu Boden.

Wagenbach nickte ernst und sagte: "Du willst nicht erzählen, wo du herkommst?"

"Nein", sagte Tschick. "Mir egal."

"Na schön. Dann erzähle ich eben etwas über dich, Andrej. Aus Gründen der Höflichkeit muss ich dich schließlich der Klasse vorstellen."

Er sah Tschick an. Tschick sah die Klasse an.

"Ich nehme dein Schweigen als Zustimmung", sagte Wagenbach. Und er sagte es in einem ironischen Ton, wie alle Lehrer, wenn sie so was sagen.

Tschick antwortete nicht.

"Oder hast du was dagegen?", fragte Wagenbach.

"Beginnen Sie", sagte Tschick und machte eine Handbewegung.

Irgendwo im Mädchenblock wurde jetzt doch gekichert. Beginnen Sie! Wahnsinn. Er betonte jede Silbe einzeln, mit einem ganz komischen Akzent. Und er starrte immer noch die hintere Wand an. Vielleicht hatte er sogar die Augen geschlossen. Es war schwer zu sagen. Wagenbach machte ein Gesicht, das zur Ruhe aufforderte. Dabei war es schon absolut ruhig.

"Also", sagte er. "Andrej Tschicha... schoff heißt unser neuer Mitschüler, und wie wir an seinem Namen bereits erkennen, kommt unser Gast von weit her, genau genommen aus den unendlichen russischen Weiten, die Napoleon in der letzten Stunde vor Ostern erobert hat - und aus denen er heute, wie wir sehen werden, auch wieder vertrieben werden wird. Wie vor ihm Karl XII. Und nach ihm Hitler."

Wagenbach zog die Luft wieder durch ein Nasenloch ein. Die Einleitung machte keinen Eindruck auf Tschick. Er rührte sich nicht.

"Jedenfalls ist Andrej vor vier Jahren mit seinem Bruder hier nach Deutschland gekommen, und - möchtest du das nicht l ieber selbst erzählen?"

Der Russe machte eine Art Geräusch.

"Andrej, ich spreche mit dir", sagte Wagenbach.

"Nein", sagte Tschick. "Nein im Sinne von ich möchte es lieber nicht erzählen."

Unterdrücktes Kichern. Wagenbach nickte kantig.

"Na schön, dann werde ich es erzählen, wenn du nichts dagegen hast, es is schließlich sehr ungewöhnlich."

Tschick schüttelte den Kopf.

"Es ist nicht ungewöhnlich?"

"Nein."

"Also, ich find es ungewöhnlich", beharrte Wagenbach. "Und auch bewundernswert. Aber um es kurz zu machen - kürzen wir das hier mal ab. Unser Freund Andrej kommt aus einer deutschstämmigen Familie, aber seine Muttersprache ist Russisch. Er ist ein großer Formulierer, wie wir sehen, aber er hat die deutsche Sprache erst im Deutschland gelernt und vierdient folglich unsere Rücksicht in gewissen ... na ja, Bereichen. Vor vier Jahren besuchte er zuerst die Förderschule. Dann wurde er auf die Hauptschule umgeschult, weil seine Leistungen das zuließen, aber da hat er es auch nicht lange ausgehalten. Dann ein Jahr Realschule, und jetzt ist er bei uns, und das alles in nur vier Jahren. Wo weit richtig?"

Tschick rieb sich mit dem Handrücken über die Nase, dann betrachtete er die Hand. "Neunzig Prozent", sagte er.

Wagenbach wartete einen Moment, ob da noch mehr käme. Aber da kam nichts mehr. Die restlichen zehn Prozent blieben ungeklärt.

"Na gut", sagte Wagenbach überraschend freundlich. "Und nun sind wir natürlich alle sehr gespannt, was da noch kommt ... Leider kannst du nicht ewig hier vorne stehen bleiben, so schön es auch ist, sich mit dir au unterhalten. Ich würde deshalb vorschlagen, du setzt dich dahinten an den freien Tisch, weil das ja auch der einzige Tisch ist, der frei ist. Nicht?"

Tschick schlurfte wie ein Roboter durch den Mittelgang. Alle sahen ihm nach. Tatjana und Natalie steckten die Köpfe zusammen.

"Napoleon!", sagte Wagenbach und machte eine Kunstpause, um eine Packung Papiertaschentücher aus der Aktentasche zu ziehen und sich ausführlich zu schnäuzen.

Tschick war mittlerweile hinten angekommen, und aus dem Gang, durch den er gekommen war, wehte ein Geruch rüber, der mich fast umhaute. Eine Alkoholfahne. Ich saß drei Plätze vom Gang weg und hätte seine Getränkeliste der letzten vierundzwanzig Stunden zusammenstellen können. So roch meine Mutter, wenn sie einen schlechten Tag hatte, und ich überlegte, ob das vielleicht der Grund gewesen war, warum er Wagenbach die ganze Zeit nicht angesehen und nicht den Mund aufgemacht hatte, wegen der Fahne. Aber Wagenbach hatte Schnupfen. Der roch sowieso nichts.

Tschick setzte sich an den letzten freien Tisch ganz hinten. An diesem Tisch hatte zu Beginn des Schuljahrs Kallenbach gesessen, der Klassentrottel. Aber weil bekannt war, dass Kallenbach pausenlos störte, hatte Frau Pechstein ihn mnoch am selben Tag von da weggeholt und in die erste Reihe gesetzt, damit sie ihn unter Kontrolle hatte. Und nun saß stattdessen dieser Russe am letzten Tisch, und vermutlich war ich nicht der Einzige, der den Eindruck hatte: dass das aus Sicht von Frau Pechstein keine gute Idee war, statt Kallenbach da den Russen sitzen zu haben. Der war ein ganz anderes Kaliber als Kallenbach, das war offensichtlich, deshalb drehten sich auch alle ständig nach ihm um. Nach diesem Auftritt mit Wagenbach wusste man einfach: Da passiert noch was, das wird jetzt richtig spannend.

Aber dann passierte den ganzen Tag lang überhaupt nichts. Tschick wurde von jedem Lehrer neu begrüßt und musste in jeder Stunde seinen Namen buchstabieren, aber ansonsten war Ruhe. Auch die nächsten Tage blieb es ruhig, es war eine richtige Enttäuschung. Tschick kam immer im selben abgewrackten Hemd zur Schule, beteiligte sich nicht am Unterricht, sagte immer "Ja" oder "Nein" oder "Weiß nicht", wenn er aufgerufen wurde, und störte nicht. Er freundete sich mit niemandem an, und er machte auch keinen Versuch, sich mit jemandem anzufreunden. Nach Alkohol stank er die nächsten Tage nicht mehr, und trotzdem hatte man immer, wenn man in die letzte Reihe guckte, den Eindruck, er wäre irgendwie weggetreten. So zusammengesunken, wie er dasaß mit seinen Schlitzaugen, da wusste man nie: Schläft der, ist der hacke, oder ist der einfach nur sehr lässig?

So ungefähr einmal die Woche roch es dann aber doch wieder. Nicht so schlimm wie am ersten Tag, aber immerhin. Es gab auch bei uns in der Klasse Leute, die schon mal einn Vollrausch gehabt hatten - ich gehörte nicht dazu --, aber dass einer morgemns besoffen in die Schule kam, war neu. Tschick kaute dann stinkendes Pfefferminzkaugummi, daran konnte man immer erkennen, was Phase war.

Sonst wusste man nicht viel über ihn. Dass da einer von der Förderschule ins Gymnasium kam, war ja absurd genug. Und dann noch diese Klamotten. Aber es gab auch Leute, die ihn verteidigten, die meinten, dass er in Wirklichkeit gar nicht dumm war. "Jedenfalls garantiert nicht so dumm wie Kallenbach", behauptete ich irgendwann, denn ich war einer von diesen Leuten. Aber ich verteidigte ihn, ehrlich gesagt, auch nur, weil Kallenbach gerade dabeistand, der mir auf die Nerven ging, Aus Tschicks Redebeiträgen konnt man wirlich nicht schließen, ob er dumm oder klug war oder irgendwas dazwischen.

Und natürlich gab es auch Gerüchte über ihn und seine Herkunft. Tschetschenien, Sibirien, Moskau - war alles im Gespräch. Kevin meinte, Tschick würde mit seinem Bruder irgendwo hinter Hellersdorf in einem Campingwagen wohnen, und dierser Bruder wäre ein Waffenschieber. Jemand anders wusste, dass er ein Frauenhändler war, und es war die Rede von einer 40-Zimmer-Villa, in der die Russenmafia Orgien feierte, und wieder jemand anders behauptete, Tschick würde in einem dieser Hochhäuser Richtung Müggelsee wohnen. Aber, ehrlich gesagt, das war alles Gewäsch, und das kam nur zustande, weil Tschick selbst mit fast niemanden redete. Und so geriet er langsam wieder in Vergessenheit. Oder jedenfalls so sehr in Vergessenheit, wie man geraten kann, wenn man täglich in dem selben schlimmen Hemd und einer billigen Jeans erscheint und auf dem Platz des Klassentrottels sitzt. Die Schuhe aus goten Tieren immerhin wurden irgendwann durch weiße Adidas ersetzt, von denen aucn sofort wieder jemand wusste, dass sie frisch geklaut waren. Und vielleicht waren sie auch frisch geklaut. Aber die Zahl der Gerüchte nahm nicht mehr weiter zu. Man erfand nur noch den Spitznamen Tschick, und für alle, denen das zu einfach war, hieß er der Förderschüler, und dann war das Russenthema erst mal durch. Jedenfalls in unserer Klasse.

Auf dem Parkplatz dauerte es etwas länger. Auf diesem Parkplatz vor der Schule standen morgtens die Oberstufenschüler, und da gab es ein paar, die schon Autos hatten, und die fanden diesen Mongolen wahnsinnig interessant. Typen, die fünfmal sitzengeblieben waren und in der offemen Fahrertür von ihrem Auto lehnten, damit auch jeder sehen konnte, dass sie die Besitzer dieser getunten Schrottkarren waren, und die machten sich über Tschick lustig. "Wieder hacke, Iwan?" und das jeden Morgen. Besonders ein Typ mit einem gelben Ford Fiesta. Ich wusste lange nicht, ob Tschick das mitkriegte, dass die ihn meinten und dass sie über ihn lachten, aber irgendwann blieb er einmal stehen. Ich war gerade damit beschäftigt, mein Fahrrad anzuschließen, und ich hörte, wie sie laut Wetten abschlossen, ob Tschick die Tür zu Schulgebäude treffen würde, so wie er schwankte --, und da blieb Tschick stehen und ging zum Parkplatz zurück und auf die Jungs zu. Die alle einen Kopf größer und ein paar Jahre älter waren als er und die wahnsinnig grinsten, wie der Russe da jetzt ankam - und an ihnen vorbeiging. Er steuerte gleich auf den Ford-Typen zu, der der Lauteste von allen war, legte beide Hände auf das gelbe Autodach und redete mit ihm so leise, dass niemand sonst ihn hören konnte, und dann verschwand langsam das Grinsen aus dem Gesicht vom Ford-Typen, und Tschick drehte sich um und ging in die Schule. Von dem Tag an riefen sie ihm nichts mehr hinterher.

Ich war natürlich nicht der Einzige, der das beobachtet hatte, und danach verstummten die Gerüchte nicht mehr, dass Tschicks Familie wirklich die russische Mafia wäre oder so was, weil, es konnte sich keiner vorstellen, wie er es sonst geschafft hatte, dem Ford-Spacko mit drei Sätzen komplett den Stecker zu ziehen. Aber logisch war das Quarkl. Mafia, völliger Quark. Das dachte ich jedenfalls.

10

Zwei Wochen danach kriegten wir die erste Arbeit in Math zurück. Strahl malte immer erst mal den Klassenspiegel an die Tafel, um einem Angst zu machen. Diesmal war eine Eins dabei, das war ungewöhnlich. Strahls Lieblingssatz lautete: Einsen gibt's nur für den lieben Gott. Das Grauen. Aber Strahl war eben Mathelehrer und endgestört. Es gab zwei Zweien, Unmengen von Dreien und Vieren, keine Fünf. Und eine Sechs. Ich machte mir ein bisschen Hoffnungen auf die Eins, Mathe war das einzige Fach, in dem ich ab und zu mal einen Treffer landete. Aber dann hatte ich eine Zwei minus. Immerhin. Bei Strahl war eine Zwei minus fast eine Eins. Ich drehte mich unauffällig um, wo der Jubelschrei wegen der Eins zu hören würde. Aber niemand jubelte. Weder Lukas noch Kevin noch die anderen Mathecracks. Stattdessen nahm Strahl das letzte Heft in die Hand und brachte es persönlich zu Tschichatschow in die letzte Reihe. Tschick saß da und kaute wie verrückt Pfefferminzkaugummi. Er guckte Strahl nicht an und stellte nur das Kauen und Atmen ein. Strahl beugte sich hinunter, befeuchtete seine Lippen und sagte: "Andrej."

Es gab fast keine Reaktion. Eine winzige Kopfdrehung wie ein Gangster im Film, der hinter sich das Klicken eines Gewehrhahns hört.

"Deine Arbeit. Ich weiß nicht, was das ist", sagte Strahl und stützte eine Hand auf Tschicks Tisch. "Ich meine, wenn ihr das noch nicht gehabt habt and deiner alten Schule - du musst das nachholen. Du hast ja überhaupt nicht - du hast es ja nicht mal versucht was da steht", Strahl blätterte das Heft auf und senkte die Stimme, aber man konnte ihn doch noch verstehen, "diese Scherze - ich meine, wenn ihr den Stoff nicht hattet, ich merke mir das natürlich. Ich musste Sechs drunterschreiben, aber die steht sozusagen in Klammern. Ich würde sagen, du wendest dich mal an Kevin oder an Lukas. Lässt du dir von denen das Heft geben. Der Stoff der letzten zwei Monate. Und auch, wenn du Fragen hast. Weil, so wird das sonst hier nichts."

Tschick nickte. Er nickte wahnsinnig verständnisvoll, und dann passierte es. Er fiel vom Stuhl, direkt vor Strahls Füße. Strahl zuckte zusammen, und Patrick und Julia sprangen auf. Tschick lag wie tot auf dem Boden.

Wir alle hatten diesem Russen ja einiges zugetraut, aber nicht, dass er vor Sensibilität vom Stuhl kippt wegen einer Sechs in Mathe. Wie sich dann schnell rausstellte, war es auch gar nicht die Sensibilität. Er hatte den ganzen Morgen nichts gegessen, und das mit dem Alkohol war offensichtlich. Im Sekretariat kotzte Tschick noch das Waschbecken voll und wurde dann mit Begleitung nach Hause geschickt.

Sein Ruf verbesserte sich dadurch nicht wirklich. Was das für Scherze gewesen waren, die er statt der Mathearbeit in sein Heft gemalt hatte, blieb unklar, und wer die Eins hatte, weiß ich auch nicht mehr. Aber was ich noch immer weiß und wahrscheinlich niemals vergessen werde, das ist Strahls Gesicht, als ihm dieser Russe vor die Füße kippte. Alter Finne.

Das Irritierende an dieser ganzen Geschichte war aber nicht, dass Tschick vom Stuhl kippte oder dass er ein Sechs schrieb. Das Irritierende war, dass er drei Wochen später eine Zwei hatte. Und danach wieder eine Fünf. Und dann wieder eine Zwei. Strahl drehte fast durch. Er redete irgendwas von "Stoff gut nachgeholt" und "jetzt niht nachlassen", aber jeder Blinde konnte sehen, dass die Zweien nichts damit zu tun hatten, dass Tschick den Stoff nachgeholt hatte. Es hatte einfach nur was damit zu tun, dass er manchmal hacke war und manchmal nicht.

So langsam kriegten das natürlich auch die Lehrer mit, und ein paarmal wurde Tschick ermahnt und nach Hause geschickt. Es gab auch Gespräche mit ihm hinter den Kulissen, aber die Schule unternahm erst mal nicht viel. Immerhin hatte Tschick ein schweres Schicksal oder so was, und weil nach dem PISA-Test sowieso jeder beweisen wollte, das auch asige, besoffene Russen auf einem deutschen Gymnasium eine Chance haben, gab es keine richtige Strafe. Nach einer gewissen Zeit beruhigte sich dann die Lage. Was mit Tschick los war, wusste zwar noch immer keiner. Aber er kam in den meistern Fächern einigermaßen mit. Er kaute immer weniger Pfefferminzkaugummi im Unterricht. Und er störte kaum noch. Wenn er nicht ab und zu seine Aussetzer gehabt hätte, hätte man vielleicht sogar vergessen, dass er da war.

11

Ein Mann, der Herrn K. lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: 'Sie haben sich gar nicht verändert.' - 'Oh', sagte Herr K. und erbleichte. Das war ja mal eine angenehm kurze Geschichte." Kaltwasser klappte im Vorbeigehen die Tafel auf, zog das Jackett aus und warf es über seinen Stuhl. Kaltwasser war unser Deutschlehrer, und er kam immer ohne Begrüßung in die Klasse, oder zumindest hörte man die Begrüßung nicht, weil er schon mit Unterricht anfing, da war er noch gar nicht durch die Tür. Ich muss zugeben, dass ich Kaltwasser nicht ganz begriff. Kaltwasser ist neben Wagenbach der Einzige, der einen okayen Unterricht macht, aber während Wagenbach ein Arschloch ist, also menschlich, wird man aus Kaltwasser nicht schlau. Oder ich werde nicht schlau aus ihm. Der kommt rein wie eine Maschine und fängt an zu reden, und dann geht es 45 Minuten superkorrekt zu, und dann geht Kaltwasser wieder raus, und man weiß nicht, was man davon halten soll. Ich könnte nicht mal sagen, ob ich ihn nett finde oder nicht. Alle anderen sind sich einig, dass Kaltwasser ungefähr so nett ist wie ein gefrorener Haufen Scheiße, aber ich weiß es nicht. Ich könnte mir sogar vorstellen, dass er auf seine Weise ganz okay ist, außerhalb der Schule.

"Angenehm kurz", wiederholte Kaltwasser. "Und da haben sich sicher einige gedacht, so kurz kann ich das auch mit der Interpretation halten. Aber dann dürfte wohl klargeworden sein: So einfach ist das nicht. Oder fand es jemand sehr einfach? Wer will denn mal? Freiwillige? Na, kommt. Die letzte Reihe lacht mich an." Wir folgten Kaltwassers Blick zur letzten Reihe. Dort lag Tschick mit dem Kopf auf dem Tisch, und man konnte nicht genau erkennen, ob er in sein Buch schaute oder schlief. Es war die sechste Stunde.

"Herr Schichatschow, darf ich bitten?"

"Was?" Tschicks Kopf hob sich langsam. Dieses ironische Siezen. Da ging schon mal das Warnlämpchen an.

"Herr Tschichatschow, sind Sie da?"

"Bei der Arbeit."

"Haben Sie die Hausaufgaben gemacht?"

"Selbstverständlich."

"Hätten Sie die Güte, sie uns vorzulesen?"

"äh, ja." Tischck sah sich kurz auf seinem Tisch um, entdeckte dann eine Plastiktüte auf dem Boden, hievte sie hoch und suchte nach dem Heft. Wie immer hatte er nichts ausgepackt vor der Stunde. Er zog mehrere Hefte raus und schien Mühe zu haben, das richtige zu identifizieren.

"Wenn du keine Hausaufgaben gemacht hast, sag's."

"Ich habe Hausaufgaben - wo isses denn? Wo isses denn?" Er legte ein Heft auf den Tisch, steckte die anderen zurück und blätterte darin herum.

"Da, da ist es. Soll ich vorlesen?"

"Ich bitte darum."

"Gut, ich fang dann jezte an. Die Hausaufgabe war die Geschichte vom Herrn K. Ich beginne. Interpretation der Geschichte von Herrn K. Die erste Frage, die man hat, wenn man Prechts Geschichte liest, ist logisch-"

"Brecht", sagt Kaltwasser, "Bert Brecht."

"Ah." Tschick fischte einen Kugelschreiber aus der Plastiktüte und kritzelte in seinem Heft. Er steckte den Kugelschreiber zurück in die Plastiktüte.

"Interpretation der Geschichte von Herrn K. Die erste Frage, die man hat, wenn man Brechts Geschichte liest, ist logisch, wer sich hinter dem rätselhaften Buchstaben K. versteckt. Ohne viel übertreibung kann man wohl sagen, dass es ein Mann ist, der das Licht der öffentlichkeit scheut. Er versteckt sich hinter einem Buchstaben, und zwar dem Buchstaben K. Das ist der elfte Buchstabe vom Alphabet. Warum verstekt er sich? Tatsächlich ist Herr K. beruflich Waffenschieber. Mit anderen dunklen Gestalten zusammen (Herrn L. und Herrn F.) hat er eine Verbrecherorganisatiomn gegründet, für die die Genfer Konvention nur einen traurigen Witz darstellt. Er hat Panzer und Flugzeuge verkauft und Milliarden gemacht und macht sich längst niht mehr die Finger schmutzig. Lieber kreuzt er auf seiner Yacht im Mittelmeer, wo die CIA auf ihn kam. Daraufhin floh Herr K. nach Südamerika und ließ sein Gesicht bei dem berühmten Doktor M. chirurgisch verändern und ist nun verblüfft, dass ihn einer auf der Straße erkennt: Er erbleicht. Es versteht sich vom selbst, dass der Mann, der ihn auf der Straße erkannt hat, genauso wie der Gesichtschirurg wenig später mit einem Betonklotz an den Füßen in unheimlich tiefem Wasser stand. Fertig."

Ich guckte Tatjana an. Sie atte die Stirn gerunzelt und einen Bleistift im Mund. Dann guckte ich Kaltwasser an. An Kaltwassers Gesicht war absolut nichts zu erkennen. Kaltwasser schien leicht angespannt. Nicht mehr und nicht weniger. Eine Zensur gab er nicht. Anschließend las Anja die richtige Interpretation, wie sie auch bei Google steht, dann gab es noch eine endlose Diskussion darüber, ob Brecht Kommunist gewesen war, und dann war die Stunde zu Ende. Und das war schon kurz vor den Sommerferien.