8

Es gibt ziemlich viele Sachen, die ich nicht kann. Aber wenn ich was kann, dann ist das ein Hochsprung. Ich meine, ich bin kein olympiamäßiger Crack oder so, aber im Hochsprung und im Weitsprung bin ich fast unschlagbar. Obwohl ich einer der Kleinsten bin, komm ich so hoch wie Olaf, der einen Meter neunzig ist. Im Frühjahr hab ich einen Schulrekord für die Mittelstufe aufgestellt und war wahnsinnig stolz. Wir waren auf der Hochsprunglage, und die Mädchen saßen nebenan im Gras, wo ihnen Frau Beilcke einen Vortrag gehalten hat. Das ist der Sportunterricht bei denen: Frau Beilck hält einen Vortrag, und die Mädchen sitzen um sie rum und kratzen sich and den Fußknöcheln. Sie laufen auch nicht dauernd um den Platz wie bei Wolkow.

Wolkow ist unser Sportlehrer, und natürlich hält der auch gern Vorträge. Alle Sportlehrer, die ich bisher hatte, lasssen unglaublich viel Text raus. Bei Wolkow ist das montags immer die Bundesliga, mittwochs die Champions League und freitags kommt schon wieder die Vorfreude auf die Bundesliga und die Analyse. Im Sommer kann Wolkow auch mal seine Meinung über die Tour de France äußern, aber das kommt über das Thema Doping dann auch immer schnell zurück zum sehr viel wichtigeren Thema, warum im Fußball schönerweise nicht gedopt wird. Weil es da nämlich nichts nützt. Das ist Wolkows ehrliche Meinung. Und das hat auch noch nie jemanden interessiert, aber das Problem ist: Wolkow redet nur, während wir um den Platz joggen. Er hat eine Wahnsinnskondition, er ist garantiuert schon siebzig oder so, zuckelt aber immer frisch vorneweg und quatscht und quatscht. Und dann sagt er immer: "Männer!" Und dann sagt er zehn Meter nichts und dann: "Dortmund." Zehn Meter. "Packt es nicht." Zehn Meter. "Die Heimbilanz. Stimmt's oder hab ich recht?" Zwanzig Meter. "Und van Gaal, der alte Fuchs! Das wird kein Spaziergang." Param, param. "Eure Meinung?" Hundert Meter. Und natürlich sagt keiner was, weil wir schon zwanzig Kilometer gelaufen sind, und nur Hans, der Nazi, der Fußballtrottel, der schwitzend hinterm Feld herkeucht, brüllt manchmal: "Ha-ho-he! Hertha BSC!" Und dann wird es selbst Wolkow zu viel, Schwafelwolkow, und er dreht eine Extraschleife, damit Hans wieder aufschließen kann, und dann hebt er den Zeigefinger und ruft mit zitternder Stimme: "Simunic! Joe Simunic! Kardinalfehler", und Hans ruft von hinten: "Ich weiß, ich weiß!", und Wolkow zieht das Tempo wieder an und murmelt: "Simunic, mein Gott! Das Bollwerk. Nie verkaufen. Abstieg. Simunic."

Und allein schon deshalb kann man wahnsinnig froh sein über Hochsprung. Vielleicht haben wir aber auch nur Hochsprung gemacht an diesem Tag, weil Wolkow eine extrem schlimme Halsentzündung hat, schwafelt er etwas weniger. Wenn Wolkow tot ist, fällt der Unterricht aus. Aber wenn er eine extrem schlimme Halsentzündung hat, joggt er einfach lautlos um den Platz.

Beim Hochsprung hat er dann die ganze Zeit unsere Leistungen in sein schwarzes Notizbüchlein eingetragen und mit den Daten vom Vorjahr verglichen und uns immer zugekrächst, letztes Jahr wären wir aber fünf Zentimeter höher gekommen. Neben der Hochsprunganlage saßen die Mädchen, wie gesagt, und hörten Frau Beilcke zu. In Wahrheit hörten sie natürlich nicht zu, sondern guckten zu uns rüber.

Tajana hockte mit ihrer besten Freundin Natalie ganz am Rand. Sie hockten da und tuschelten. Und ich saß wie auf glühenden Kohlen. Ich wollte unbedingt drankommen, bevor Frau Beilcke mit ihrem Sermon zu Ende war. Tollerweise machte Wolkow auch gleich Wettkampf: Eins zwanzig Höhe, wer nicht drüberkam, war raus. Dann fünf Zentimeter höher und so weiter. An eins zwanzig scheiterte nur Heckel. Heckel hat einen Fettbauch, hatte er schon in der Fünften, und dazu Streichholzbeine. Es ist nicht die ganz große überraschung, dass er keinen Zentimeter vom Boden abheben kann. Eigentlich ist er in keinem Fach besonders gut, aber in Sport ist er besonders scheiße. Er ist auch Legastheniker zum Beispiel, was bedeutet, dass in Deutsch seine Rechtschreibung nicht zählt. Da kann er so viele Fehler machen, wie er will. Es zählen nur Inhalt und Stil, weil das eine Krankheit ist und er nichts dafür kann. Aber da frage ich mich schon, was er denn für seine Streichholzbeine kann. Sein Vater ist Busfahrer und sieht genauso aus: eine Tonne auf zwei Stelzen. Genau genommen ist Heckel also auch Hochsprung-Legastheniker, und es dürfte nicht zählen, wie hoch er kommt, sondern nur der Stil. Aber das ist halt keine anerkannte Krankheit, da bleibt es dann bei der Fünf in Sport, und alle Mädchen kichern, wenn der Fettsack mit beiden Händen voran die Latte abwehrt und quiekend aufs Gesicht fällt. Arme Sau, einerseits. Andererseits muss ich zugeben, dass es wirklich komisch aussieht. Denn selbst wenn bei Heckel die Höhe nicht zählen würde, der Stil ist immer noch fünf minus.

Bei eins vierzig lichtete sich langsam das Feld. Bei eins fünfzig waren nur noch Kevin und Patrick dabei, André mit großer Mühe und ich natürlich. Olaf war krank. Als André sich über die Latte gequält hatte, gabe es Mädchenjubel, und Frau Beilicke guckte streng. Bei eins fünfundfünfzig rief Natalie: "Das schaffst du, André!" Eine extrem blöde Anfeuerung, denn er schaffte es natürlich nicht. Im Gegenteil, er flog geradezu unter der Latte durch, wie so oft beim Hochsprung, wenn man sich zu viel vornimmt. Er krachte hinten über den Rand und versuchte sich dann mit einem Witz zu retten und tat so, als ober er die Latte aus Frust wie einn Speer fortwerfen wollte. Der Witz war aber alt. Keiner lachte. Als Nächstes feuerten sie Kevin an. Mathegenie Kevin. Aber über eins sechzig kam er auch nicht drüber. Und dann war nur noch ich drin. Wolkow ließ eins fünfundsechzig auflegen, und ich merkte schon beim Anlauf, das ist mein Tag. Es war der Tag des Maik Klingenberg. Ich hatte dieses Triumphgefühl schon beim Absprung. Ich sprang überhaupt nicht, ich segelte über die Anlage wie ein Flugzeug, ich stand in der Luft, ich schwebte. Maik Klingenberg, der große Leichtathlet. Ich glaube, wenn ich mir mal selber einen Spitznamen gegeben hätte, wäre es Aeroflot gewesen oder so. Oder Air Klingenberg. Der Kondor von Marzahn. Aber leider darf man sich ja selbst keine Spitznamen geb en. Als mein Rücken in die Weiche Matte sank, hörte ich, wie auf der Jungseite verhalten geklatscht wurde. Auf der Mädchenseite hörte ich nichts. Als die Matte mich wieder hochdrückte, war mein erster Blick zu Tatjana, und Tatjana guckte Frau Beilcke an. Natalie guckte auch Frau Beilcke an. Sie hatten meinen Sprung überhaupt nicht gesehen, die blöden Kühe. Keins von den Mädchen hatte meinen Sprung gesehen. Es interessierte sie nicht, was die psychotische Schlaftablette sich da zusammensprang. Aeroflot mein Arsch.

Da hat mich noch den ganzen Tag fertiggemacht, obwohl es mich ja selbst nicht interessiert hat. Als ob mich der Scheißhochsprung eine Sekunde lang interessieren würde! Aber wenn André über eins fünfundsechzig aufgelegt gewesen wären, wären die Mädchen puschelschwenkend über die Tartanbahn gerast. Und bei mir guckte nicht mal eine hin. Ich interessierte niemanden. Wenn mich irgendetwas interessierte, dann auch die Frage: Warum guckt keiner hin, wenn Air Klingenberg Schulrekord fliegt, und warum gucken sie hin, wenn ein Mehlsack unter der Latte durchrutscht? Aber so war das eben. Das war die Scheißschule, und das war das Scheißmädchenthema, und da gab es keinen Ausweg. Dachte ich jedenfalls immer, bis ich Tschick kennenlernte. Und dann änderte sich einiges. Und das erzähle ich jetzt.