48

Voormann wusste eindeutig nicht, was er sagen sollte. Beide Polizisten hatten ausdrucklose Mienen aufgesetzt. Einer kaute Kaugummi.

"Möchten Sie allein mit ihm sprechen?", fragte Voormann. Der mit dem Kaugummi sah Voormann erstaunt an, hörte kurz mit dem Kauen auf und zuckte die Schultern. Als wollte er sagen: Uns doch wurscht.

"Möchten Sie einen Raum, wo Sie ungestört sind?", setzte Voormann nach.

"Ist nur kurz", sagte Polizist Nummer zwei. "Ist ja keine Vorladung. Wir kommen praktisch nur vorbei, weil wir eh vorbeikommen.

Schweigen, Blicke. Ich kratzte mich hinterm Ohr.

"Ich hab ein Telefonat unterbrochen", sagte Voormann schließlich unsicher. Und im Gehen rief er noch: "Ich hoffe, das klärt sich alles auf!"

Und dann ging es los. Nummer eins fragte: "Maik Klingenberg?"

"Ja."

"Nauenstraße 45?"

"Ja."

"Du kennst Andrej Tschichatschow?"

"Ja. Er ist ein Freund von mir."

"Wo ist er?"

"In Bleyen. Bleyener Anstalten."

"In dem Heim?"

"Ja."

"Hab ich doch gesagt", sagte Nummer zwei.

"Seit wann?", fragte Nummer eins und guckte mich an.

"Seit dem Prozess - kurz davor. Also seit zwei Wochen oder so."

"Habt ihr Kontakt?"

"Ist was passiert?"

"Die Frage lautet: Habt ihr Kontakt?"

"Nee."

"Ich denk, ist dein Freund?"

"Ja."

"Und?"

Worauf zum Geier wollten die hinaus? "Das ist so ein Heim, wo man die ersten vier Wochen keinen Kontakt haben darf. Die ersten Vier Wochen werden die abgeschnitten von der Außenwelt. Müssten Sie doch eigentlich besser wissen."

Nummer eins kaute mit offenem Mund. Nach dem geisteskranken Zeichentrickbären war das eine echte Erleichterung.

"Was ist denn passiert?", fragte ich.

"Ein Lada", sagte Nummer zwei. Er ließ das auf mich wirken. Ein Lada. "Da ist ein Lada verschwunden in der Annenstraße."

"Kerstingstraße", sagte ich.

"Was?"

"Wir haben den in der Kerstingstraße geklaut."

"Annenstraße", sagte der Polizist. "Vorgestern. Alter Schrott. Kurzgeschlossen. Heute Nacht bei Königs Wusterhausen wiedergefunden. Totalschaden."

"Gestern", sagte Nummer eins. Er kaute zweimal auf seinem Kaugummi. "Gestern gefunden. Vorgestern geklaut."

"Also, es geht jetzt nicht um unseren Lada?"

"Was meinst du mit unseren?"

"Wissen Sie doch."

Das Kaugummi knallte in seinem Mund. "Es geht um die Annenstraße."

"Und was hab ich damit zu tun?"

"Das ist die Frage."

Und da dämmerte mir so langsam, dass Tschick und ich wahrscheinlich für die nächsten hundert Jahre für jedes beschissene Auto verantwortlich sein würden, das jemand in Marzahn kurzschloss.

Aber das in der Annenstraße konnte ich nicht gewesen sein, weil ich den ganzen Tag die Mongos am Hals gehabt hatte und abends Fußballtraining, und es war nicht sehr schwer, die Polizisten davon zu überzeugen, dass auch Tschick in seinem geschlossenem Heim nichts damit zu tun hatte. Schienen sie merkwürdigerweise auch vorher schon geahnt zu haben. Besonders Nummer zwei meinte die ganze Zeit, dass sie sich nur die Vorladung hatten sparen wollen und einfach mal vorbeigucken, sie machten sich nicht mal Notizen. Ich war fast ein bisschen einttäuscht. Denn in diesem Moment klingelte es zum Ende der Stunde, und die Tür zum Klassenzimmer ging auf. Dreißig Augenpaare, Zeichentrickbär inklusive, glotzten raus, und irgendwie wäre es doch toller gewesen, wenn sie mich gerade mit dem Schlagstock gewürgt hätten. Maik Klingenberg, der Schwerverbrecher. Aber sie wollten sich nur verabschieden und gehen.

"Soll ich Sie noch zum Auto begleiten?", fragte ich, und Nummer zwei explodierte sofort: "Findest du das cool vor deinen Mitschülern oder was? Willst du noch Handschellen angelegt kriegen?"

Wieder diese Erwachsenensache. Wie schnell die einen durchschauen. Ich hielt es für das Lässigste, es nicht abzustreiten. Aber da war nichts zu machen. Und ich wollte dann auch nicht aufdringlich sein. Sie hatten schon genug für mich getan.

49

Irgenwann musste ich ins Sekretariat und einen Brief abholen. Einen richtigen Brief. Ich hab in meinem Leben vielleicht drei Briefe bekommen. Einen, den ich in der Grundschule an mich selbst schreiben musste, weil wir das lernen sollten, und dann noch einen oder zwei von meiner Großmutter, bevor sie Internet hatte. Die Sekretärin hielt den Brief in der Hand, und ich sah, dass vorne drauf eine komische kleine Kugelschreiberzeichnung von einem Auto war, in dem ein paar Strickmännchen saßen, und rund um das Auto ein paar Strahlen, als wäre das Auto die Sonne, und dadrunter stand:

Maik Klingenburg
Schüler am Hagecius-Gymnasium
neunte Klasse ungefähr
Berlin

Dass das angekommen war, war schon ein Wunder. Aber weil ich nicht Klingenburg hieß und sie in der fünften Klasse auch noch einen Maik Klinger hatten, wollte die Sekretärin erst mal wissen, ob ich den Absender kennen würde.

"Andrej Tschichatschow", sagte ich, denn der Brief konnte logisch nur von Tschick sein, der es irgendwie geschafft hatte, an der Kontaktsperre vorbei zu schreiben, und ich freute mich wahnsinnig.

"Anselm", sagte die Sekretärin.

"Anselm", sagte ich. Ich kannte keinen Anselm. Die Sekretärin hielt den Kopf schief, und nach einer Weile sagte ich: "Anselm Wail?", und die Sekretärin gab mir den Brief. Wahnsinn. Anselm Wail, Auf dem hohen Berg. Ich riss ihn sofort auf, um zu gucken, wer der wahre Absender war, und dann war ich viel zu aufgeregt zum Lesen und packte ihn wieder ein und las ihn erst eine Stunde später, als ich zu Hause war und auf dem Bett lag.

Weil, er war natürlich von Isa. Und ich freute mich riesig. Ich freute mich fast genauso, wie wenn der Brief von Tschick gewesen wäre. Ich lag den ganzen Nachmittag damit auf dem Bett und dachte darüber nach, ob ich jetzt eigentlich mehr in Tatjana verliebt war oder mehr in Isa, und ich wusste es nicht. Im Ernst, ich wusste es nicht.

Hallo du Schwachkopf. Habt ihrs noch in die Walachei geschafft? Ich wette nicht. Ich hab meine Halbschwester besucht und kann dir jetzt das Geld wiedergeben. Ich hab einen Lasterfahrer verprügelt und meinen Holzkästchen verloren. Ich fand es gut mit euch. Ich fands schade, dass wir nicht geküsst haben. Ich fand am besten die Brombeeren. Nächste Woche komm ich nach Berlin. Sonntag den 29. um 17 Uhr unter der Weltzeituhr, wenn du nicht noch fünfzig Jahre warten willst. Kuss - Isa.

Von unten waren Geräusche zu hören. Es gab einen Schrei, es krachte und rumpelte. Lange hörte ich nicht hin, weil ich dachte, meine Eltern streiten wieder, und ich drehte mich mit dem Brief auf den Rücken. Dann fiel mir aber ein, dass mein Vater gar nicht da war, weil er heute mit Mona zusammen eine neue Wohnubg anguckte.

Ich hörte noch mehr Krach und sah aus dem Fenster. Im Garten war niemand zu sehen, aber in unserem Pool trieb kieloben ein Sessel. Irgendwas Kleineres spritzte daneben ins Wasser und versank. Sah aus wie einn Handy. Ich ging nach unten.

Da stand meine Mutter auf der Schwelle der Terrassentür und hatte schon wieder Schluckauf. In der einen Hand hielt sie eine eingetopfte Primel, wie man Leute an den Haaren hält, und in der anderen Hand ein Whiskyglas.

"So geht das schon wieder seit einer Stunde", sagte sie verzweifelt. "Dieser Scheißschluckauf geht einfach nicht weg."

Sie stellte sich auf den Zehenspitzen und warf die Primel in den Pool.

"Was machst du denn da?", fragte ich.

"Wonach sieht's denn aus?", sagte sie. "Ich hänge nicht an dem Scheiß. Außerdem muss ich bescheuert gewesen sein - guck dir mal das Muster an."

Sie hielt ein rot-grün kariertes Sitzkissen hoch und warf es über die Schulter in den Pool.

"Merk dir eins im Leben! Hab ich mit dir eigentlich schon mal über grundsätzliche Fragen gesprochen? Und ich meine nicht den Mist mit dem Auto oder was. Ich meine wirklich grundsätzliche Fragen."

Ich zuckte die Schultern.

Sie zeigte einmal rundum. "Das ist alles egal. Was nicht egal ist: Bist du glücklich damit? Das. Und nur das." Kurze Pause. "Bist du eigentlich verliebt?"

Ich dachte nach.

"Also ja", sagte meine Mutter. "Vergiss den anderen Scheiß."

Sie hatte die ganze Zeit angepisst ausgesehen, und sie sah auch jetzt noch angepisst aus, aber auch ein wenig überrascht. "Du bist also verliebt, ja? Und ist das Mädchen - sie auch in dich?"

Ich schüttelte den Kopf (für Tatjana) und zuckte die Schultern (für Isa).

Meine Mutter wurde sehr ernst, schenkte sich noch ein Glas ein und warf auch die leere Whiskyflasche in den Pool. Dann umarmte sie mich. Sie riss die Kabel vom DVD-Spieler raus ubd schleuderte ihn ins Wasser. Es folgten die Fernbedienung und der große Kübel mit der Fuchsie. Eine riesige Fontäne spritzte über dem Kübel hoch, dunkle Sandwolken stiegen an der Einschlagsstelle auf, und rote Blütenblätter schwammen auf den Wellen.

"Ach, ist das herrlich", sagte meine Mutter und weinte. Dann fragte sie mich, ob ich auch was trinken will, und ich sagte, dass ich wahrscheinlich lieber auch irgendwas in den Pool werfen würde.

"Hilf mir mal." Sie ging zur Couch. Wir schleppten die Couch zum Beckenrand. Sie machte eine Eskimorolle und dümpelte dann mit den Füßen nach oben knapp unter der Wasseroberfläche. Meine Mutter kippte den runden Tisch in die Senkrechte und ließ ihn in einem großen Halbkreis über die Terrasse rollen. Er fiel ganz hinten ins Wasser. Als Nächstes nahm sie die Chinalampe auseinander, setzte sich den Schirm auf den Kopf und beförderte den Lampenfuß wie ein Kugelstoßer in den Pool. Fernseher, CD-Ständer, Beistelltischchen.

Meine Mutter knallte gerade einn Champagnerkorken über die Terrasse und hielt sich die sprudelnde Flasche an den Mund, als der erste Polizist um die Ecke kam. Er zuckte zusammen, entspannte sich aber sofort, als meine Mutter den Lampenschirm abnahm und damit grüßte wie d'Artagnan mit seinem Federhut. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Ich stand am Beckenrand, den großen Couchsessel auf den Armen.

"Die Nachbarn haben uns informiert", sagte der Polizist.

"Diese Scheiß-Stasi-Kacker", sagte mein Mutter und setzte den Lampenschirm wieder auf.

"Wohnen Sie hier?", fragte der Polizist.

"Allerdings", sagte meine Mutter. "Und Sie befinden sich auf unserem Grundstück." Sie ging ins Wohnzimmer und kam mit dem Ölgemälde wieder raus.

Der Polizist sagte irgendwas von Nachbarn, Ruhestörung und Verdacht auf Vandalismus, und währenddessen hob meine Mutter den Ölschinken mit beiden Händen über den Kopf und segelte damit wie ein Drachenflieger in den Pool. Das konnte sie noch immer so gut wie früher. Sie sah toll dabei aus. Sie sah aus, wie jemand, der wirklich nichts lieber macht auf der Welt, als unter einem Ölschinken in einen Pool zu segeln. Ich bin sicher, die Polizisten wären mit Begeisterung hinterhergesegelt, wenn sie nicht zufällig im Dienst gewesen wären. Ich jedenfalls ließ mich mit dem Couchsessel vornüberfallen. Das Wasser war lauwarm. Beim Untertauchen spürte ich, wie meine Mutter nach meiner Hand griff. Zusammen mit dem Sessel sanken wir zum Grund und sahen von da zur schillernden Möbeln obenauf, dunklen Quadern, und ich weiß noch genau, was ich dachte, als ich da unten die Luft anhielt und hochschaute. Ich dachte nämlich, das sie mich jetzt wahrscheinlich wieder Psycho nennn würden. Und dass es mir egal war. Ich dachte, dass es Schlimmeres gab als eine Alkoholikerin als Mutter. Ich dachte daran, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde, bis ich Tschick in seinem Heim besuchen konnte, und ich dachte an Isas Brief. Auch an Horst Fricke und sein Carpe diem musste ich denken. Ich dachte an das Gewitter über dem Weizenfeld, an Pflegeschwester Hanna und den Geruch von grauem Linoleum. Ich dachte, dass ich das alles ohne Tschick nie erlebt hätte in diesem Sommer und dass es ein toller Sommer gewesen war, der beste Sommer von allen, und an all das dachte ich, während wir da die Luft anhielten und durch das silberne Schillern und die Blasen hindurch nach oben guckten, wo sich zwei Uniformen ratlos über die Wasseroberfläche beugten und in einer stummen, fernen Sprache miteinander redeten, in einer anderen Welt - und ich freute mich wahnsinnig. Weil, man kann zwar nicht ewig Luft anhalten. Aber doch ziemlich lange.