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Und dann war Gerichtsverhandlung. Ich war logisch tödlich aufgeregt. Allein die Räume im Gericht waren der reine Terror. Riesige Treppenhäuser, Säulen, Statuen an den Wänden wie in einer Kirche. Das sieht man bei Richterin Barbara Salesch auch nicht, dass man erst mal stundenlang wo warten muss, wo man denkt, man ist auf seiner eigenen Beerdigung. Und genau das dachte ich, während ich da wartete, und ich dachte auch, dass ich in meinem Leben nie wieder ein Kaugummi klauen würde.

Als ich in den Gerichtssaal reinkam, saß der Richter schon hinter seiner Theke und zeigte mir, wo ich Platz nehmen sollte, an einem Tischchen fast wie in der Schule. Der Richter hatte einen schwarzen Poncho an, und rechts von ihm saß eine Frau und surfte die ganze Zeit im Internet, jedenfalls sah sie so aus. Ab und zu tippte sie ein bisschen, aber sie guckte eine Stunde lang nicht vom Computer auf. Und ganz links saß noch einer im schwarzen Poncho. Wie sich dqnn rausstellte, der Staatsanwalt. Die schwarze Kleidung scheint ein wichtiger Bestandteil vom Gericht zu sein. Auch draußen liefen lauter Schwarzgekleidete rum, und ich musste an die weißen Kittel im Krankenhas denken und an Pflegeschwester Hanna, und ich war froh, dass man unter dem Schwarz wenigstens keine Unterwäsche sehen konnte.

Tschick war noch nicht da, kam dann aber ein Minute später in Begleitung von einem Mann vom Jugendheim. Wir fielen uns in die Arme, und keiner hatte was dagegen. Viel Zeit zum Unterhalten hatten wir allerdings nicht. Der Richter legte gleich los, ich musste meinen Namen sagen und wo ich wohne und das alles, und Tschick genauso, und dann stellte der Richter nochmal die ganzen Fragen, die die Polizisten auch schon gestellt hatten. Warum, weiß ich nicht, denn er kannte unsere Antworten ja schon aus den Akten, und am "Tatverlauf", wie der Richter das nannte, gab es dann auch keine riesigen Zweifel mehr. Ich erzählte einfach immer mehr oder weniger die Wahrheit, so wie ich sie ja auch schon auf der Polizei erzählt hatte - na ja --, von ein paar winzigen Details abgesehen. Dass wir im Krankenhaus den Namen von André Langin angegeben hatten ubd so einen Quatsch. Das konnte man aber auch gut unter den Tisch fallenlassen, das interessierte sowieso keinen. Was den Richter hauptsächlich interessierte, war, wo wir damit überall langgefahren waren und warum wir das gemacht hatten. Das war die einzig schwierige Frage: Warum? Da hatten die Polizisten auch schon immer nachgehackt, und das wollte der Richter jetzt auch nochmal ganz genau wissen, und da wusste ich wirklich nicht, was ich antworten sollte. Zum Glück hat er uns dann gleich selbst so Antworten angeboten. Zum Beispiel, ob wir einfach Fun hätten haben wollen. Fun. Na ja, schön, Fun, das schien mir selbst auch das Wahrscheinlichste, obwohl ich das so nicht formuliert hätte. Aber ich hätte ja auch schlecht sagen können, was ich in der Walachei gewollt hatte. Ich wusste es nicht. Und ich war mir nicht sicher, ob sich der Richter stattdessen für meine Geschichte mit Tatjana Cosic interessieren würde. Dass ich diese Zeichnung für sie gemacht hatte und dass ich eine Riesenangst hatte, der größte Langweiler unter der Sonne zu sein, und dass ich einmal im Leben wenigstens kein Feigling sein wollte, und deshalb sagte ich, dass das mit dem Fun schon irgendwie richtig wäre.

Wobei mir einfällt, dass ich in einem Punkt dann doch gelogen hab. Und das war das mit der Sprachtherepeutin. Ich wollte nicht, dass die Sprachtherepeutin wegen uns Schwierigkeiten bekommt, weil sie so wahnsinnig nett gewesen war, und deshalb habe ich sie und ihre Feuerlöscher einfach nie erwähnt. Ich hab dem Richter nur erzählt, was ich auf der Polizei schon erzählt hatte, dass sich nämlich Tschick den Fuß gebrochen hat, als der Lada sich am Steilhang ungefähr fünfmal überschlage hat, und dass wir danach über das Feld geradewegs ins Krankenhaus gehumpelt sind und keine Sprachtherapeutin und nix.

Eigentlich eine ganz okaye Lüge, aber schon während ich sie dem Autobahnpolizisten zum ersten Mal auftischte, fiel mir ein, dass sie auffliegen würde. Weil Tschick den Polizisten natürlich ganz was anderes erzählen würde, wenn sie ihn fragten. Unbd sie würden ihn fragen. Rausgekommen ist das Ganze dann lustigerweise nicht, weil Tschick nämlich genau das Gleiche gedacht hat, dass er die Sprachtherapeutin da nicht reinreißen will, und weil das eine so naheliegende Lüge war, das stellte sich jetzt im Gerichtssaal raus, war Tschick bei seiner Vernehmung auch auf genau die gleiche Lösung gekommen wie ich: Fuß beim Überschlag gebrochen, dann übers Feld ins Krankenhaus gehumpelt - und keinem ist aufgefallen, dass da ein logischer Fehler war. Weil, wenn man irgendwo in der Pampa, wo man noch nie war, einen Unfall baut und ringsum nur Felder und am Horizont ein paar Bäume und einzelne Gebäude - woher hätten wir ahnen sollen, dass dieses große weiße Ding, auf das wir da angeblich zielstrebig zugehumpelt sind, ein Krankenhaus ist?

Aber, wie gesagt, der Richter interessierte sich sowieso mehr für andere Dinge.

"Was mich mal interessieren würde, wer von euch beiden genau hat die Idee zu dieser Reise gehabt?" Die Frage ging an mich.

"Na, der Russe, wer sonst!", kam es halblaut von hinten. Mein Vater, der Idiot.

"Die Frage geht an den Angeklagten!", sagte der Richter. "Wenn ich Ihre Meinung wissen wollte, würde ich Sie fragen."

"Wir hatten die Idee", sagte ich. "Wir beide."

"Quatsch!", meldete sich Tschick zu Wort.

"Wir wollten einfach ein bisschen rumfahren", sagte ich, "Urlaub wie normale Leute und -"

"Quatsch!", meldete sich Tschick wieder.

"Du bist nicht dran", sagte der Richter. "Warte, bis ich zu dir komme."

Da war er ganz eisern, dieser Richter. Reden durfte immer nur, wer dran war. Und als Tschick dran war, erklärte er sofort, dass das mit der Walachei seine Idee gewesen wäre und dass er mich geradezu ins Auto hätte zerren müssen. Er erzählte, woher er wüsste, wie man Autos kurzschließt, während ich keine Ahnung hätte und das Gaspedal nicht von der Bremse unterscheiden könnte. Er erzählte völligen Quatsch, und ich sagte dem Richter, dass das völliger Quatsch ist, und da sagte der Richter jetzt zu mir, dass ich nicht dran wäre, und im Hintergrund stöhnte mein Vater.

Und als wir schließlich genug über das Auto geredet hatten, kam der schlimmste Teil, und es wurde über uns geredet. Nämlich der Typ vom Jugendheim erklärte ausführlich, aus was für Verhältnissen Tschick kommen würde, und er redete über Tschick, als wäre der gar nicht anwesend, und sagte, dass seine Familie so eine Art asoziale Scheiße wäre, auch wenn er andere Worte dafür gebrauchte. Und dann erklärte der Typ von der Jugendgerichtshilfe, der mich und meine Eltern zu Hause besucht hatte, aus was für einem stinkreichen Elternhaus ich kommen würde und dass ich dort vernachlässigt würde und verwahrlost sei und meine Familie letztlich auch so eine Art asozialer Scheiße, und als das Urteil verkündet wurde, war ich überrascht, dass sie mich nicht lebenslänglich einsperrten. Im Gegenteil, milder konnte ein Urteil gar nicht ausfallen. Tschick musste im Heim bleiben, wo er eh schon war, und an mich erging die Weisung, Arbeitsleistungen zu erbringen. Im Ernst, das hat der Richter gesagt. Er hat dann zum Glück auch gleich erklärt, was er damit meinte, und in meinem Fall meinte er, dass ich dreißig Stunden lang Mongos den Arsch abwischen soll. Zum Schluß kamn noch stundenlange moralische Ermahnungen, aber es waren eigentlich sehr okaye Ermahnungen. Nicht wie bei meinem Vater oder an der Schule immer, sondern schon eher so Sachen, wo man dachte, es geht am Ende um Leben und Tod, und ich hörte mir das sehr genau an, weil mir schien, dass dieser Richter nicht gerade endbescheuert war. Im Gegenteil. Der schien ziemlich vernünftig. Und der hieß Burgmüller, falls es jemanden interessiert.

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Und das war dann dieser Sommer. Die Schule fing wieder an. Statt 8c stand jetzt 9c an der Tür von unserem Klassenraum. Sonst hatte sich nicht viel verändert. Es war noch die gleiche Sitzordnung wie in der Achten. Jeder saß da, wo er vorher gesessen hatte, außer dass am Tisch ganz hinten keiner mehr saß. Kein Tschick.

Erste Stunde am ersten Tag nach den Sommerferien: Wagenbach. Ich war eine Minute zu spät, kriegte aber ausnahmsweise keinen Anschiss. Ich humpelte noch ein bisschen und hatte Schrammen im Gesicht und überall. Wagenbach hob nur eine Augenbraue und schrieb das Wort "Bismarck" an die Tafel.

Schüler Tschichatschow würde heute nicht zum Unterricht erscheinen, erklärte er ganz nebenbei, und warum das so war, wusste er nicht, oder er sagte es nicht. Ich glaube, er wusste es nicht.

Ich wurde ein bisschen traurig, als ich den leeren Platz sah, und ich wurde noch trauriger, als ich zu Tatjana rüberguckte, die einen Bleistift im Mund hatte und ganz braun gebrannt war. Sie hörte Wagenbach zu, und es war ihr nicht anzusehen, ob sie jetzt stolze Besitzerin einer Bleistift-Beyoncé war oder ob sie die Zeichnung einfach zusammengeknüllt und in den Papierkorb geworfen hatte. Tatjana war so schön an diesem Morgen, dass es mir schwerfiel, nicht dauernd zu ihr rüberzugucken. Aber mit eisernem Willen schaffte ich es.

Ich versuchte gerade, mich wenigstens ein bisschen für die Geschäfte dieses Bismarck zu interessieren, als ich von Hans ein Zettel auf den Oberschenkel gelegt kriegte. Ich hielt ihn eine Weile in der Faust, weil Wagenbach in meine Richtung schaute, und als ich dann raufguckte, um festzustellen, an wen ich ihn weitergeben musste, stand Maik auf dem Zettel. Ich konnte mich nicht erinnern, in den letzten Jahren mal einen Zettel gekriegt zu haben. Außer so Zetteln, die jeder kriegte. Wo dann Nicht hochgucken, da sind Fußballspuren an der Decke! oder so ein Fünfklässlerscheiß drinstand.

Ich wartete einen Moment, faltete den Zettel auseinander und las. Ich las ihn fünfmal hintereinander. Es war kein superkomplizierter Text, es waren sogar nur neun Worte, aber ich musste sie trotzdem fünfmal lesen, um sie zu verstehen. Da stand: Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?!? Tatjana.

Besonders das letzte Wort blockierte irgendwas in meinem Gehirn. Ich sah mich nicht um.

Die Wahrscheinlichkeit, dass mich jemand verarschen wollte, war relativ groß. War früher mal sehr beliebt gewesen: Zettel mit falschem Absender, wo Ich liebe Dich oder irgendein Quark drinstand. Aber es war doch meistens leicht zu erkennen, wer der wahre Absender war, weil der einen heimlich beobachtete.

Ich schaute in die Richtung, aus der der Zettel gekommen war und wo auch Tatjana saß. Niemand beobachtete mich. Auch Tatjana nicht. Ich las den Zettel zum sechsten Mal. Er war in Tatjanas Handschrift geschrieben, die kannte ich ganz genau. Das A mit dem runden Bogen, der Schnörkel im G - ich hätte das eins zu eins nachmachen können. Aber wenn ich es konnte, konnte es wahrscheinlich auch jeder andere. Und mal angenommen - nur mal angenommen --, der Zettel kam wirklich von ihr. Mal angenommen, das Mädchen, das mich nicht zu ihrer Party eingeladen hatte, wollte wissen, was mit mir passiert war.

Allerhand. Was sollte ich darauf antworten? Vorausgesetzt, ich antworte? Weil, es war ja ziemlich viel passiert, und ich hätte Hunderte Seiten vollschreiben müssen, um das alles zu erklären. Obwohl ich genau das natürlich am liebsten getan hätte. Wie wir rumgefahren waren, wie wir und mit dem Lada überschlagen hatten, wie Horst Fricke auf uns geschossen hatte. Die Sache mit der Mondlandschaft, die Sache mit den Schweinen und huderttausend andere Sachen. Und wie ich mir ziemlich sicher, dass sie's so genau auch wieder nicht wissen wollte. Dass das Ganze vermutlich eher so eine Art Höflichkeitsanfrage war, und ich überlegte noch eine Weile, und dann raffte ich mich endlich auf und schrieb: Ach, nichts Besonderes auf den Zettel und schickte ihn zurück.

Ich guckte nicht hin, wie Tatjana ihn las, aber dreißig Sekunden später war der Zettel wieder da. Diesmal waren es nur sieben Worte: Jetzt sag schon! Es interessiert mich wirklich.

Es interessierte sie wirklich. Für die nächste Antwort brauchte ich eine halbe Ewigkeit. Obwohl sie wieder nicht sehr ausführlich war. Insgeheim wollte ich natürlich immer noch meinen Roman loswerden, aber auf so einem Zettel ist ja auch nicht viel Platz, und ich gab mir wahnsinnig Mühe. Es war schon fast am Ende der Stunde, als ich zum zweiten Mal Tatjanas Namen auf den Zettel schrieb und ihn zu Hans rübergab. Hans schob ihn mit dem Ellenbogen zu Jasmin. Jasmin ließ ihn eine Weile neben sich liegen, als würde er sie nichts angehen, und schnipste ihn dann zu Anja. Anja warf ihn über den Gang auf Olafs Tisch, und Olaf, der dumm war wie ein Haufen Wäsche, schmiss den Zettel über Andrés Schulter nach vorn, als Wagenbach sich gerade umdrehte.

"Oh!", sagte Wagenbach und hob den Zettel auf. André machte nicht den geringsten Versuch, ihn zu verteidigen.

"Geheime Botschaften!", rief Wagenbach und hielt den Zettel hoch, und die Klasse lachte. Sie lachten, weil sie wussten, was jetzt kam, und ich wusste es auch. In diesem Moment wünschte ich mir, ich hätte Horst Frickes Gewehr gehabt.

Wagenbach holte die Lesebrille raus und las: "Maik - Tatjana - Maik." Er sah zuerst Tatjana an und dann mich.

"Ich schätze eure rege Beteiligung am Unterricht. Aber wenn iuhr Verständnisfragen zur Bismarck'schen Außenpolitik habt, könnt ihr euch doch einfach melden", sagte er. "Ihr müsst eure Fragen nicht auf winzige Zettel schreiben, in der Hoffnung, dass ich sie zufällig finde."

Diesen Witz machte er nicht zum ersten Mal. Er machte diesen Witz jedes Mal. Der Klasse war es egal. Sie fanden dieses Affentheater immer wahnsinnig toll.

Und man durfte sich keine Hoffnungen machen, dass es damit zu Ende war. Es gab Lehrer, die zerissen Zettel einfach nur, es gab welche, die warfen sie in den Mülleimer oder steckten sie ein, aber es gab auch Wagenbach. Und Wagenbach war ein Arschloch. Er war der einzige Lehrer an der ganzen Schule, der imstande war, aus konfizierten Handys den kompletten SMS-Speicher vorzulesen. Da änderte es nichts, wenn man bettelte oder heulte, Wagenback las alles vor.

Er faltete feierlich den Zettel auseinander, und ich hoffted, es würde irgendein Wunder geschehen und ein Meteorit vom Himmel fallen, der Wagenbach den Arsch spaltete. Oder dass es wenigstens zur Pause klingelte, das hätte gereicht. Aber natürlich klingelte es nicht, und natürlich fiel auch kein Meteorit vom Himmel. Wagenbach ließ seinen Blick einmal über die Klasse schweifen und stellte sich in Positur. Ich glaube, er wäre wahnsinnig gern Schauspieler geworden oder Kabarettist. Aber es hatte nur zum Arschloch gereicht. Und ich meine - wenn es einfach irgendein Zettel gewesen wäre mit irgendeinem Quark drauf. Aber es waren die ersten ernstgemeinten Worte in meinem Leben, die ich mit Tatjana wechselte - und vielleicht auch die letzten --, und Wagenbach hatte kein Recht der Welt, sie vorzulesen.

"Da schreibt also das Fräulein Cosic", sagte Wagenbach und zeigte mit dem Kinn in Richtung Tatjana, als wäre sie uns allen bekannt, "unsere bezaubernde Nachwuchsliteratin Fräulein Cosic schreibt: Mein Gott! Die letzten beiden Worte in einem mäuschenhaften Piepsen.

Ein Riesenknaller. Gelacht wurde bei Wagenbach ja sonst nicht, aber wenn er selbst die Witze machte, dann schon. Auch wenn es rein beknackte Witze waren. Dass er zum Beispiel "Nachwuchsliteratin" sagte, war so einer von diesen beknackten Witzen.

"Mein Gott!", piepste Wagenbach weiter. "Was ist denn mit dir passiert?"

"Arsch", sagte ich halblaut, es ging im Jubel unter. Tatjana starrte auf die Tischplatte vor sich. Und da starrte sie noch die ganze Zeit hin. Wagenbach drehte sich zu mir um.

"Und was antwortet der Herr Klingenberg?"

Er senkte das Kinn auf die Brust und sagte mit einer Stimme wie ein geistig behinderter Zeichentrickbär: "Och, nöchts Bösondörös."

Die Klasse brüllte. Selbst Olaf, der alles verbockt hatte durch seine Blödheit, fing an mitzulachen. Das war kaum auszuhalten.

"Ein geschliffener Dialog", sagte Wagenbach. "Doch wird das wissbegierige Fräulein Cosic sich mit dieser Antwort zufriedengeben? Oder verlangt es sie nach mehr?

Mäuschenhaftes Piepsen: "Jetzt sag schon! Es interessiert mich wirklich."

Geistig gehinderter Zeichentrickbär: "Oslo. Dös wor so."

Wagenbach kniff die Augen hinter der Lesebrille zusammen, als könnte er selbst nicht fassen, was jetzt kam. Tatjana hob leicht den Kopf, weil sie meine Antwort ja auch noch nicht kannte, und ich sah aus dem Fenster und überlegte, was Tschick jetzt gemacht hätte an meiner Stelle. Ein ausdrucksloses Gesicht vermutlich. Er konnte das aber besser als ich.

Wagenbach war in seiner Bärennummer mittlerweile so drin, dass er erst gar nicht mitkriegte, was er da vorlas. "Tschick ond öch sönt möt döm Auto höromgöfohrön. Oigöntlöch wolltön wör ön dö Wolochai, ober donn hobön wör ons fönf Mol öborgeschlogön, nochdöm einör auf uns geschossön hottö." Wagenbach stutzte und fuhr mit normaler Stimme fort: "Dann Verfolgungsjagd mit der Polizei, Krankenhaus. Ich bin später noch in einem Laster gekracht mit lauter Schweinen drin, und mir hat's die Wade zerissen, aber na ja - alles nicht so schlimm."

Einige lachten immer noch. Hauptsächlich die drei Leute, die nicht auf Tatjanas Party gewesen waren. Die, die Tschick und mich mit dem Lada gesehen hatten, waren mehr oder weniger verstummt.

"Sieh mal an", sagte Wagenbach. "Der saubere Herr Klingenberg! Unfälle, Verfolgungsjagden, Schießereien. Und in einen Mord ist er nicht verwickelt? Na, man kann nicht alles haben."

Er glaubte offensichtlich kein Wort von dem, was er da vorgelesen hatte. Klang ja auch nicht sehr glaubwürdig. Und ich war nicht wahnsinnig wild darauf, ihn aufzuklären.

"Was mich allerdings am meisten begeistert an Herrn Klingenbergs aufregendem Leben, ist nicht diese Räuberpistole hier. Dass er sich Verfolgungsjagden geliefert haben will mit einem - wenn ich mich nicht irre --, mit einem Auto und Herrn Tschichatschow zusammen, nein ... Am meisten begeistert mich natürlich seine Formulierungskunst. Wie knapp, wie anschaulich! Denn wie lautet nochmal sein Fazit des ganzen Schwerverbrechens?" Er sah zuerst mich an und dann die Klasse und rief: "Ollös nöch so schlömm!"

Wagenbach schwenkte den Zettel vor Jennifer und Luisa herum, die das Unglück hatten, in der ersten Reihe zu sitzen.

"Alles nicht so schlimm!", wiederholte er und fing selbst an zu lachen. So sehr hatte er sich wahrscheinlich schon lange nicht mehr amüsiert. Wer sich dagegen überhaupt nicht amüsierte, war Tatjana. Das konnte man sehen. Und das nicht nur, weil sie mir den Zettel geschrieben hatte. Sie ahnte schätzungsweise, dass das keine Räuberpistole war, und so guckte sie auch.

Aber bisher hatte Wagenbach uns nur lächerlich gemacht. Was jetzt noch fehlte, war die Demütigung. Die Predigt. Das blöde Geschrei. Jeder wusste das, jeder wartete darauf, und als Wagenbach die Hand hob, um für Ruhe zu sorgen - kam merkwürdigerweise gar kein Geschrei, keine Predigt, keine Strafe. Stattdessen fiel der Meteorit vom Himmel. Es klopfte an der Tür.

"Ja!", sagte Wagenbach.

Voormann öffnete die Tür, der Direktor.

"Muss mal kurz stören", sagte er. Er schaute sich mit ernster Miene um. "Sind die Schüler Klingenberg und Tschichatschow anwesend?"

"Nur Klingenberg", sagte Wagenbach.

Alle hatten sich zur Tür umgedreht, und dort in der offenen Tür war nicht nur Voorann zu sehen. Im Dunkeln hinter Voormann konnte man zwei Uniformen erkennen. Breitschultrige Polizisten in voller Montur, Handschellen, Pistole, alles.

"Dann soll der Klingenberg mal mitkommen", sagte Voormann.

Ich stand so lässig wie möglich auf, soweit man mit zitternden Knien lässig aufstehen kann, und warf einen letzten Blick auf Wagenbach. Das dämliche Grinsen war weg. Er sah zwar immer hoch ein bisschen aus wie der debile Zeichentrickbär, aber ein einem richtigen Zeichentrickfilm hätte man ihm jetzt zwei Kreuze als Augen und eine zerknitterte Wellenlinie als Mund malen müssen. Ich fühlte mich großartig, trotz zitternder Knie. Das hörte allerdings gleich auf, als ich auf den Gang den Polizisten gegenüberstand.