"So viel dazu", sagte Tschick. Er hatte es also auch überlebt.
Tosender Applaus brandete auf. Es hörte sich an, als ob eine riesige Menge schrie, pfiff, johlte und mit den Füßen trampelte, und das kam mir nicht ganz unberechtigt vor, denn für einen Amateur-Autofahrer war meine Bremsleistung eine Bremsleistung der Extraklass gewesen. Das war jedenfalls meine Meinung zu dem Thema, und es wunderte mich nicht, dass auch andere dieser Meinung waren. Nur war ja gar kein Publikum da.
"Bist du okay?", fragte Tschick und rüttelte an meinem Arm.
"Ja. Und du?"
Die Beifahrerseite neben Tschick war zwanzig Zentimeter weit ins Auto gedrückt worden, aber sehr gleichmäßig. Alles lag voller Scherben.
"Ich glaub, ich hab mich geschnitten." Er hielt eine blutige Hand hoch. Das Publikum brüllte und pfiff immer noch, es mischte sich aber auch schon Grunzen darunter.
Ich befreite mich vom Sicherheitsgurt und kippte zur Seite. Das Auto lag offensichtlich schief, ich musste durch das Seitenfenster aussteigen. Dann fiel icn sofort über irgendwas auf der Straße. Ich richtete micn wieder auf, fiel wieder hin und landete in einem blutigen Matsch. Ein totes Schwein. Ein paar Meter hinter uns hatte ein roter Opel Astra gebremst. In ihm saßen eine Frau und ein Mann und hielten mit den Zeigefingern die Knöpfe an den Türen runtergedrückt. Ich setzte mich auf ihre Kühlerhaube und fasste mit einer Hand die Antenne an. Ich konnte nicht mehr stehen, und diese Antenne fühlte sich wirklich gut an. Niemals im Leben wollte ich diese Antenne loslassen. "Bist du okay?", rief Tschick noch einmal, der hinter mir aus dem Auto geklettert war.
In diesem Moment kam ein Schwein schreiend um den umgekippten Laster gerannt. Hinter ihm eine Menge anderer Schweine. Das vorderste rannte blutend über die Autobahn auf eine Böschung zu. Einige galoppierten hinterher. Aber die meisten blieben stehen, und sie standen zwischen toten Schweinen und zerschossenen Käfigen und schrien vor Verzweifelung. Und dann sah ich am Horizont die Polizei auftauchen. Ich wollte erst wegrennen, aber ich wusste, es hat keinen Sinn, und die letzten beiden Bilder, an die ich mich erinnere, sind: Tschick, der mit seinem Gipsfuß die Böschung runterhumpelt. Und der Autobahnpolizist, der mit freundlichen Gesichtsausdruck neben mir steht und meine Hand von der Antenne löst und sagt: "Die kommt auch ohne dich klar."
Und den Rest habe ich ja schon erzählt.
Ich saß auf einem Stuhl, und er saß mir gegenüber auf einem Stuhl und beugte sich so weit vor, dass sein Gesicht direkt vor meinem Gesicht war und seine Knie von außen gegen meine drücken, und ich konnte bei jedem Wort, das er schrie, sein Rasierwasser riechen. Aramis. Geschenk von meiner Mutter, zum hundertsiebzigsten Geburtstag.
"Du hast mächtig Scheiße gebaut, ist dir das klar!"
Ich antwortete nicht. Was sollte ich antworten? Klar war mir das klar. Und er sagte es ja auc nicht zum ersten, sondern zum ungefähr hundertsten Mal heute, und was er jetzt noch von mir hören wollte, wusste ich nicht.
Er sah meine Mutter an, und meine Mutter hustete.
"Ich glaube schon, dass er's begreift", sagte sie. Sie rührte mit dem Strohhalm im Amaretto rum.
Mein Vater packte mich an den Schultern und schüttelte mich. "Weißt du, wovon ich rede? Sag gefälligst was!"
"Was soll ich denn sagen? Ich hab noh ja gesagt, ja, es ist mir klar. Ich hab's verstanden."
"Gar nichts hast du verstanden! Gar nichts ist dir klar! Er denkt, es geht um Worte. Ein Idiot!"
"Ich bin kein Idiot, nur weil ich zum hundertsten Mal -"
Zach, scheuerte er mir eine.
"Josef, lass doch." Meine Mutter versuchte aufzustehen, verlor aber sofort das Gleichgewicht und ließ sich zurück in den Sessel neben der Amarettoflasche sinken.
Mein Vater beugte sich ganz dicht zu mir vor. Er zitterte vor Aufregung. Dann verschränkte er die Arme vor der Brust, und ich versuchte mit meinem Gesicht eine Art Zerknirschung auszudrücken, weil mein Vater das vermutlich erwartete und weil ich wusste, dass er die Arme nur verschränkte, weil er kurz davor war, mir noch eine zu scheuern. Bis dahin hatte ich einfach nur gesagt, was ich dachte. Ich wollte nicht lügen. Diese Zerknirschung war die erste Lüge, die ich mir an diesem Tag leistete, um die Sache abzukürzen.
"Ich weiß, dass wir Scheiße gebaut haben, und ich weiß -"
Mein Vater holte mit dem Arm aus, und ich zog den Kopf ein. Diesmal brüllte er aber nur: "Nein, nein, nein! Ihr habt überhaupt keine Scheiße gebaut, du Vollidiot! Dein asiger Russenfreund hat Scheiße gebaut! Und du bist so dämlich, dich da reinziehen zu lassen. Du bist doch allein zu blöd, um an unserem Auto den Rückspiegel zu verstellen!", rief mein Vater, und ich machte ein genervtes Gesicht, weil ich ihm schon ungefähr zehntausend Mal erklärt hatte, wie es wirklich gewesen war, auch wenn er's nicht hören wollte.
"Glaubst du, du bist allein auf der Welt? Glaubst du, das fällt nicht auf uns zurück? Was meinst du, wie ich jetzt dasteh? Wie soll ich den Leuten Häuser verkaufen, wenn mein Sohn ihre Autos klaut?"
"Du verkaufst doch eh keine Häuser mehr. Deine Firma ist doch -"
Zack, krachte es in mein Gesicht, und ich fiel zu Boden. Alter Finne. Auf der Schule heißt es ja immer, Gewalt ist keine Lösung. Aber Lösung mein Arsch. Wenn man einmal so eine Handvoll in der Fresse hat, weiß man, dass das sehr wohl eine Lösung ist.
Meine Mutter schrie, ich rappelte mich auf, und mein Vater sah zu meiner Mutter und dann irgendwo in den Raum, und dann sagte er: "Klar. Ganz klar. Ist auch egal. Setz dich. Ich hab gesagt, setz dich, du Idiot. Und hör genau zu. Du hast nämlich gute Chancen, mit einem blauen Auge davonzukommen. Das weiß ich vom Schuback. Außer du stellst dich so dämlich an wie jetzt und erzählst dem Richter, wie toll du ein Auto kurzschließen kannst mit der Dreißig auf die Fünfzig und holla-holla. Das machen die gern beim Jugendgericht, dass sie das Verfahren gegen einen einstellen, damit er als Zeuge gegen den das Verfahren eingestellt wird, außer du bist zu scheißdämlich. Aber verlass dich drauf: Dein asiger Russe ist nicht so dämlich wie du. Der kennt das schon. Der hat schon eine richtige kriminelle Karriere hinter sich, Ladendiebstahl mit seinem Bruder, Schwarzfahren, Betrug und Hehlerei. Ja, da guckst du. Die ganze asige Sippscaft ist so. Hat er dir natürlich nicht erzählt. Und der hat auch kein solches Elternhaus vorzuweisen, der lebt in der Scheiße. In seiner Sieben-Quadratmeter-Scheiße, wo er auch hingehört. Der kann froh sein, wenn er in ein Heim kommt. Aber die können den auch abschieben, sagt der Schuback. Und der wird morgen versuchen, um jeden Preis seine Haut zu retten - ist dir das klar? Der hat seine Aussage schon gemacht. Der gibt dir die ganze Schuld. Das ist immer so, da gibt jeder Idiot dem anderen die Schuld.
"Und das soll ich also auch machen?"
"Das sollst du nicht, das wirst du machen. Weil sie dir nämlich glauben. Verstehst du? Du kannst von Glück sagen, dass der Typ von der Jugendgerichsthilfe hier so begeistert war. Wie der das Haus gesehen hat. Wie er allein den Pool gesehen hat! Das hat er ja auch gleich gesagt, dass da hier ein Elternhaus ist mit den besten Möglichkeiten und allem Pipapo." Mein Vater drehte sich zu meiner Mutter um, und meine Mutter linste in ihr Glas. "Du bist da reingerissen worden von diesem russischen Asi. Und das erzählst du dem Richter, egal, was du der Polizei vorher erzählt hast, capisce? Capisce?"
"Ich erzähl dem Richter, was passiert ist", sagte ich. "Der ist doch nicht blöd."
Mein Vater starrte mich ungefähr vier Sekunden lang an. Das war das Ende. Ich sah noch das Blitzen in seinen Augen, dann sah ich erst mal nichts mehr. Die Schläge trafen mich überall, ich fiel vom Stuhl und rutschte auf dem Fußboden rum, die Unterarme vorm Gesicht. Ich hörte meine Mutter schreien und umfallen und "Josef!" rufen, und zuletzt lag ich so, dass ich zwischen meinen Armen heraus durchs Terrassenfenster sah. Ich spürte die Fußtritte immer noch, aber es wurden langsamer weniger. Mein Rücken tat weh. Ich sah den blauen Himmel über dem Garten und schneifte. Ich sah den Sonnenschirm über der einsamen Liege im Wind. Daneben stand ein braunder Junge und fischte mit einem Kescher die Blätter aus dem Pool. Sie hatten den Inder wieder eingestellt.
"Ach Gott, ach Gott", sagt meine Mutter und hustete.
Den Rest des Tages verbrachte ich im Bett. Ich lag auf der Seite und zuppelte am Rollo rum, das über mir in der Nachmittagssonne schaukelte. Das Rollo war uralt. Ich hatte es schon gehabt, als ich drei Jahre alt war. Wir waren fünfmal damit umgezogen, und es war immer da gewesen. Das fiel mir jetzt zum ersten Mal auf, als ich daran rumzuppelte. Ich hörte aus dem Garten die Stimmen meiner Eltern. Der Inder kriegte auch noch was ab. Wahrscheinlich hatte er irgendein welkes Blatt im Pool übersehen. Es war der große Schreitag für meinen Vater. Später hörte ich die Vögel im Garten, dann setzte die Dämmerung ein, und es wurde ruhig.
Ich lag da, während es immer dunkler wurde, und betrachtete das Rollo und dachte darüber nach, wie lange alles noch so bleiben würde. Wie lange ich hier noch liegen könnte, wie lange wir noch in diesem Haus leben würden, wie lange meine Eltern noch verheiratet wären.
Und ich freute mich darauf, Tschick wiederzusehen. Das war das Einzige, worauf ich mich freute. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen sein unserem Unfall auf der Autobahn, und das war jetzt schon vier Wochen her. Ich wusste, dass sie ihn in ein Heim gebracht hatten, aber es war ein Heim, wo man erst mal keinen Kontakt haben dürfte, nicht mal Briefe bekam man da.