36

Auf der anderen Seite dann karge Sträucher und Gräser und so eine Art Dorf. Eine zerbröselte Straße wand sich zwischen verfallenen Häusern. Die Fenster hatten größtenteils keine Scheiben, die Dächer waren abgedeckt. Auf den Straßen nirgends Schilder, keine Autos, keine Zigarettenautomaten, nichts. Vor den Gärten waren die Zäune abmontiert vor langer Zeit, Unkraut wucherte aus jeder Ritze.

Wir gingen in ein verlassenes Bauernhaus und durchsuchten die Räume. Verschimmelte Holzregale lehnten an einer Wand. Auf einem Küchentisch eine leere Konservendose und ein Teller, am Boden eine Zeitung von 1995 mit einer Meldung vom Tagebau. Als wir sicher waren, dass in dem ganzen Ort kein Mensch mehr war, durchsuchten wir auch noch zwei andere Häuser, fanden aber nichts Interessantes. Alte Kleiderbügel, kaputte Gummistiefel, ein paar Tische und Stühle. Ich hatte ja mindestens irgendwo eine Leiche erwartet, aber in die ganz dunklen Keller trauten wir uns auch nicht.

Wir fuhren weiter durch den Ort. An einer zweistöckigen Ruine waren die Fenster mit Brettern vernagelt, und auf die Bretter hatte jemand mit weißer Farbe Zeichen und Zahlen gemalt. Aucn auf dem Weg, den wir fuhren, waren links und rechts Zeichen und Zahlen auf Steine und Zaunpfähle gemalt, und in der Mitte lag plötzlich ein riesiger Bretterhaufen. Außen rum zog sich ein Wagenspur, und Tschick hielt vorsichtig im ersten Gang darauf zu, als es einen ungeheuren Schlag gab. Es knirschte. Wir guckten uns an. Der Lada stand still, und dann gab es den nächsten Schlag, als ob jemand von außen gegen die Karosserie hämmerte. Oder mit Steinen warf. Oder schoss. Tschick drehte leicht den Kopf, und da merkte ich, dass die Scheibe hinter uns aussah wie ein Spinnennetz.

Sofort sprang ich aus dem Auto. Ich weiß nicht, warum, aber ich warf mich hinterm Auto ins Gras, und an die nächsten erinnere ich mich nicht wirklich. Ich meine, ich hätte gewinkt. Und was ich auch noch weiß - weil Tschick es mir hinterher erzählt hat --, ist, dass er den Rückwärtsgang einlegte und mich anbrüllte, ich soll wieder einsteigen. Aber ich war hinter dem Auto entlanggekrochen und winkte wie blöd mit den Armen über die Kühlterhaube. Ich spähte zu den Ruinen gegenüber, zu den kahlen Fenstern, und dann sah ich, was ich zu sehen erwartet hatte: In einer Fensteröffnung stand jemand mit dem Gewehr im Anschlag. Ich sah noch eine Sekunde in die Mündung, dann hob er das Gewehr und setzte es ab. Ein alter Mann.

Er stand im zweiten Stock des beschrifteten Hauses. Er zitterte, so kam es mir vor, aber nicht, wie ich zitterte. Bei ihm schien es das Alter zu sein. Er schirmte seine Augen mit einer Hand gegen die blendenden Sonne ab, während ich wie blöd weiterwinkte.

"Wo willst du hin? Stein ein, stein ein!", rief Tschick, aber ich war aufgestanden und ging, immer noch winkend und händeschwenkend, auf das Gebäude zu.

"Wir wollen nichts! Wir haben uns verfahren. Wir fahren sofort zurück!", rief ich.

Der Alte nickte. Er hielt das Gewehr am Lauf in die Luft und brüllte: "Kein Plan! Keine Karte und kein Plan!"

Ich blieb auf dem Gelände vor seinem Haus stehen und versuchte mit meiner Miene auszudrücken, wie recht er hatte.

"Im Feld nie ohne Plan!", rief er. "Kommt rein! Ich habe Limo für euch. Kommt rein."

Und logisch war das das Letzte, was ich wollte, da reingehen, aber er beharrte drauf, und es war am Ende keine allzu schwere Entscheidung. Wir standen immer noch in seinem Schussfeld, der Weg um den Bretterhaufen herum war schwierig, und der Alte schien ja aucn nicht völlig gestört. Na ja: Ich meine, er redete wie ein normaler Mensch.

Sein Wohnzimmer - wenn man das so nennen kann - war in nicht wesentlich besserem Zustand als die Zimmer der Häuser, die wir durchsucht hatten. Man sah zwar, dass es bewohnt wurde, aber es war unglaublich düster und dreckig. An der Wand hingen Unmengen Schwarzweißfotos.

Wir mussten uns auf ein Sofa setzen, und dann holte der Mann mit feierlicher Miene eine halbvolle Fanta hervor und sagte: "Trinkt. Trinkt aus der Flasche."

Er saß uns in einem Sessel gegenüber und kippte selbst irgendeinen Fusel aus einem Marmeladenglas. Das Gewehr lehnte zwischen seinen Knien. Ich hatte erwartet, dass er uns jetzt erst mal zum Lada ausfragen oder wissen wollen würde, wo wir damit hinwollten, aber das kratzte ihn offenbar gar nicht. Als er rausgefunden hatte, dass wir aus Berlin waren, interessierte ihn hauptsächlich, ob Berlin sich wirklich so verändert hätte und ob man da noch unbehelligt über die Straße gehen könnte. Er bezweifelte das nämlich. Und nachdem wir ungefähr zehnmal versichern mussten, dass uns von Mord und Totschlag an unserer Schule nichts bekannt war, fragte er plötzlich: "Habt ihr denn ein Mädel?"

Ich wollte nein sagen, aber Tschick war schneller.

"Seine heißt Tatjana, und ich bin voll in Angelina", sagte er, und ich wunderte mich nicht, warum er das sagte. Die Antwort schien den Alten allerdings nich recht zufriednzustellen.

"Weil, ihr seid zwei ganz hübsche Jungs", sagte er.

"Nee, nee", sagte Tschick.

"In dem Alter weiß man häufig nicht, wohin der Hase will."

"Nee", sagte Tschick und schüttelte den Kopf, und auch ich schüttelte den Kopf, ungefähr wie ein ultimativer Lionel-Messi-Fan, der gefragt wird, ob er nicht doch eher Cristiano Ronaldo für den Allergrößten hält.

"Dann seid ihr also verliebt, ja?"

Wir sagte wieder ja, und mir wurde etwas mulmig, als ich merkte, wie er auf dem Thema rumritt. Er redete nur noch von Mädeln und von Liebe und dass das Schönste im Leben der Alabasterkörper der Jungend wäre.

"Glaubt mir", sagte er, "ihr schließt ein Mal die Augen und öffnet sie wieder, und welk hängt das Fleisch in Fetzen. Die Liebe, die Liebe! Carpe diem."

Er ging zwei Schritte zur Wand und zeigte auf eins der vielen kleinen Fotos. Tschick guckte mich stirnrunzelnd an, aber ich stand sofort auf, setzte mein Ich-weiß-was-sich-gehört-Lächeln auf und begutachtete das Foto, über dem der runzlige Finger des Alten schwebte. Es war ein Passfoto, auf einer Ecke ein Viertel eines Stempels und ein Viertel Hakenkreuz. Es zeigte einen hübschen jungen Mann in Uniform, der einigermaßen trotzig in die Gegend guckte. Offenbar er selbst. Während ich mir das ansah, wanderte der runzlige Finger ein Bild nach rechts.

"Und das ist die Else. Das war mein Mädel."

Das Foto zeigte ein scharfgeschnittenes Gesicht, von dem ich auf den ersten Blick nicht hätte sagen können, ob es Junge oder Mädchen war. Aber "Else" trug eine andere Uniform als der Soldat oder Hitlerjunge neben ihr. Insofern war es vielleicht wirklich ein Mädchen.

Er fragte, ob er uns die Geschichte von sich und der Else erzählen sollte, und da er dabei schon wieder das Luftgewehr in die Hand genommen hatte, gedanenverloren allerdings, als wäre es ein Teil seines Körpers oder ein Teil seiner Geschichte, und weil wir ja auch schlecht nein sagen konnten, hörten wir uns dann das an.

Es war allerdings keine richtige Geschichte. Jedenfalls nicht so eine, wie Leute sie normalerweise erzählen, wenn sie von ihrer großen Liebe erzählen.

"Ich war Kommunist", sagte er. "Die Else und ich, wir waren Kommunisten. Und zwar Ultrakommunisten. Und auch nicht erst nach 45 wie all andern, wir waren schon immer Kommunisten. Und da haben wir uns auch kennengelernt, in der Widerstandsgruppe Ernst Röhm. Das glaubt heute keiner mehr, aber das war eine andere Zeit. Und ich konnte mit Waffen wie kein Zweiter. Die Else war das einzige Mädel da, eine ganz Feine, aus bestem Haus, und hat ausgesehen wie ein Junge. Die hat die ganzen verbotenen Schriftsteller übersetzt. Die hat den Juden Shakespeare übersetzt. Die hat den Ravage übersetzt. Sie konnte Englisch wie ein Vogel, das konnten ja nicht viele, und ich hab das auf der Schreibmaschine abgetippt ... ja, so war das. Liebe meines Lebens, Feuer meiner Lenden. Im KZ haben sie die Else dann sofort vergast, und ich bin im Strafbataillon mit meiner Flinte durch den Kursker Bogen gekrochen. Damit konnte ich einem Iwan auf 400 Meter ein Auge ausschießen."

"Einem Iwan?", fragte Tschick.

"Einem Iwan. Einem Scheißrussen", sagte der Alte und dachte nach. Er sah dabei weder Tschick noch mich an, und wir wechselten einen Blick. Tschick wirkte nicht sonderlich beunruhigt, ich war's eigentlich nicht mehr.

"Ich dachte", sagte ich, "Sie wären Kommunist gewesen."

"Ja."

"Und - waren die Russen nicht auch so 'ne Art Kommunisten?"

"Ja."

Er dachte wieder nach. "Und ich konnte einem auf 400 Meter ein Auge ausschießen! Horst Fricke, bester Schütze seiner Einheit. Ich hatte mehr Eichenlaub an meiner Brust als ein vderdammter Wald. Wie Tontauben hab ich die weggeknallt. Die waren komplett behämmert. Oder die Kommandanten waren behämmert. Die haben die Horden auf uns zugetrieben. Vorne hat Sinning am MG abgeräumt und hinten Schütze Fricke. Fricke allein gegen den Iwan war das manchmal. Und die hatten ja auch Gewehre. Da musst du erst mal drüber nachdenken, wenn du so blöde Fragen stellst. Wenn du denkst, du kommst jetzt mit Moral und dem ganzen Dreck. Die oder ich! Das war die Frage. Jeden Tag Iwans, jugendliches Fleisch, das auf uns zugetaumelt ist. Ein Ozean aus Fleisch. Die hatten ja zu viel davon. Von wegen Lebensraum im Osten. Waren viel zu viele Russen da. Bei denen stand einer von der Tscheka hinter jeder Linie und hat jeden abgeknallt, der nicht rauswollte in unser Sperrfeuer. Denkt man immer, die Nazis waren grausam. Aber im Vergleich zum Russen: Fliegenschiss. Und da haben sie uns ja letztlich mit überrollt. Mit Fleisch. Mit Maschinen hätten sie das nie geschafft. Ein Iwan und noch ein Iwan und noch ein Iwan. Ich hatte zwei Zentimeter Hornhaut auf meinem rechten Zeigefinger. Hier." Er hielt beide Zeigefinger hoch. Tatsächlich hatte der rechte eine kleine Beule an der Kuppe. Ob die wirklich vom Iwan kam, weiß ich natürlich nicht.

"Das ist doch alles Schwachsinn", sagte Tschick.

Merkwürdigerweise reagierte der Mann nicht wirklich auf diesen Einwand. Er redete noch eine Weile weiter, aber was es mit seiner großen Liebe letztlich auf sich hatte, erfuhren wir nicht.

"Und eins müsst ihr euch merken, meine Täubchen", sagte er zum Schluss. "Alles sinnlos. Auch die Liebe. Carpe diem."

Dann zog er ein kleines braunes Glasfläschchen aus der Hosentasche und überreichte es uns, als wäre es das Kostbarste auf der Welt. Er machte ein großes Gewese drum, wollte aber nicht sagen, was drin war. Das Etikett war vergilbt, und das Fläschchen sah aus, als hätte er es mindestens seit dem Kurker Bogen in seiner Tasche mit sich rumgetragen. Wir sollten es nur aufmachen, wenn wir in Not wären, schärfte er uns ein, wenn die Lage so ernst wäre, dass wir nicht mehr weiterwüssten, und vorher nicht, und dann würde es uns helfen. Er sagte retten. Es würde uns das Leben retten.

Damit gingen wir zu Auto zurück. Ich hielt das Fläschchen gegens Licht, aber es war nichts zu erkennen. Irgendeine zähe Flüssigkeit, aber auch was Festes mit dabei.

Im Auto versuchte Tschick, die Schatten auf dem Etikett zu entziffern, und als er das Fläschchen schließlich aufmachte, fing es an, wie wahnsinnig nach faulen Eiern zu stinken, und er warf es aus dem Fenster.

37

Die Straße verlor sich kurz hinter dem verlassenen Dorf, und wir mussten querfeldein. Links lag irgendwo die weggefräste Landschaft, rechts sackte eine riesige, längliche Kiesböschung nach unten, und dazwischen lief eine vierzig bis fünfzig Meter breite Piste, ein schmales Plateau. Als ich mich einmal umdrehte, sah ich in großer Entfernung hinter uns das Dorf sah das zweistöckige Haus, in dem Schütze Fricke wohnte, und sah - dass vor dem Haus ein Polizeiauto hielt. Ganz winzig, kaum noch zu erkennen, aber doch eindeutig: die Polizei. Sie schienen gerade zu wenden. Ich machte Tschick darauf aufmerksam, und wir nagelten mit fast achtzig Stundenkilometer durchs Gelände. Die Piste wurde immer schmaler, die Abhänge rückten näher an uns ran, und schräg vor uns sahen wir irgendwo die Autobahn, die da unten einen Schlenker an der Kiesböschung vorbeimachte. Ich erkannte eine Parkbucht mit zwei Tischchen, einen Mülleimer und eine Notrufsäule, und man hätte da wahrscheinlich einfach auf die Autobahn fahren können - wenn irgendwo ein Weg nach unten geführt hätte. Aber vom Plateau führte kein Weg hinunter. Das Scheißplateau war da einfach zu Ende. Ich sah verzweifelt durch die Heckscheibe, und Tschick steuerte auf die Böschung zu, einen 45-Grad-Steilhang aus Kies und Geröll.

"Runter oder was?", rief er, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er tippte noch auf die Bremse, dann rauschten wir schon über die Kante - und das war's.

Möglicherweise hätten wir es auch geschafft, wenn wir gerade runtergefahren wären, aber Tschick fuhr seitlich auf die Böschung, und da schmierte der Lada sofort ab. Er kam ins Rutschen, blieb hängen und überschlug sich. Drei-, vier-, fünf-, sechsmal - ich weiß es nicht --, überschlug sich und blieb dann auf dem Dach liegen. Ich kriegte kaum was mit. Was ich wiedere mitkriegte, war: Die Beifahrertür war aufgesprungen, und ich versuchte rauszukriechen. Was mir nicht gelang. Ich brauchte ungefähr eine halbe Stunde, um zu merken, dass ich nicht gelähmt war, sondern im Sicherheitsgurt festhing. Dann war ich endlich draußen und sah in dieser Reihenfolge: einen grünen Autobahnmülleimer direkt vor mir, einen umgedrehten Lada, unter dessen Motorhaube es dampfte und zischte, und Tschick, der auf allen vieren durchs Gelände kroch. Er rappelte sich auf, taumelte ein paar Schritte, rief "Los!" und fing an zu rennen.

Aber ich rannte nicht. Wohin denn? Hinter uns das Plateau mit der Polizei vermutlich, vor uns die Autobahn Felder bis zum Horizont. Nicht gerade das ideale Gelände, um vor einer Polizeistreife davonzulaufen. Rund um den Autobahnparkplatz noch ein paar Bäume und Gebüsch, hinter den Feldern irgendwo ein großer weißer Kasten, wahrscheinlich eine Fabrik.

"Was ist los?", rief Tschick. "Bist du verletzt?"

War ich verletzt? Nein, schien nicht so. Ein paar blaue Flecken vielleicht.

"Stimmt was mit dir nicht?", fragte er und kam zurück.

Ich wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, warum ich es für lächerlich hielt, zu Fuß vor der Polizei davon zu laufen, da gab es ein Geräusch von brechenxen Zweigen und Laubrascheln. Ein Flusspferd brach vor uns durc die Büsche. Irgendwo in Deutschland, direkt an der Autobahn, in der völligen Einöde, bradh ein Flusspferd durchs Gebüsch und rannte auf uns zu. Es hatte einen blauen Hosenanzug an, eine blonde, kräuselige Dauerwelle auf dem Kopf und einen Feuerlöscher in der Hand. Vier bis fünf Fettringe schwabbelten über seiner Taille. Mit zwei Walzen, die unter aus dem Hosenanzug rausguckten, stampfte es durch das Gelände, kam vor dem umgedrehten Lada zum Stehen und riss den Feuerlöscher hoch.

Nichts brannte.

Ich schaute Tschick an, Tschick schaute mic an. Wir schauten die Frau an. Denn es war eine Frau und kein Flusspferd. Keiner sagte was, und ich weiß noch, dass ich dachte, dass aus diesem Feuerlöscher jetzt ein weißer Strahl rausschießen müsste, um uns unter einem Schaumberg zu begraben.

Die Frau wartete noch eine Weile, dass das Auto explodierte, damit sie ihren Feuerlöscher einsetzen konnte, aber der Lada war im Todeskampf genauso müde, wie er zu Lebzeiten gewesen war. Unrter der Motorhaube zischte es nur. Ein Hinterrad drehte sich, wurde langsamer und blieb stehen.

"Ist euch was passiert?", fragte die Frau und guckte misstrauisch zur Kühlerhaube. Tschick tippte mit dem Finger gegen den Feuerlöscher. "Brennt's?"

"O mein Gott", sagte die Frau und ließ den Feuerlöscher sinken. "Ist euch was passiert?"

"Nichts", sagte Tschick.

"Bei dir auch alles klar?"

Ich nickte.

"Wo ist euer Vater? Oder eure Mutter? Wer ist denn gefahren?"

"Ich bin gefahren", sagte Tschick.

Die Frau schüttelte den Kopf, der aussah wie ihre Taille.

"Ihr habt einfach das Auto von -"

"Das Auto ist geklaut", sagte Tschick.

Wenn der Arzt recht hatte, der mich später untersuchte, hatte ich zu dieser Zeit einen Schock. Bei einem Schock geht alles Blut in die Beine, und dadurch hat man kein Blut mehr im Kopf und tickt praktisch nicht mehr richtig. Hat jedenfalls der Arzt gesagt. Und er hat auch gesagt, dass das aus der Steinzeit ist, wo die Neandertaler durch den Wald gelaufen sind, und wenn dann plötzlich von rechts ein Mammut kam, kriegte man einen Schock, und mit dem vielen Blut in den Beinen konnt man besser weglaufen. Denken war da nicht so wichtig. Klingt merkwürdig, aber, wie gesagt, das hat der Arzt gesagt. Und vielleicht hatte Tschick also recht gehabt mit seinem Wegrennen, und ich hatte unrecht mit meinem Stehenbleiben, aber im Nachhinein ist man immer schlauer. Und vor uns stand die Frau mit dem Feuerlöscher und war ebenfalls geschockt. Weil, wenn ich einen Schock hatte und wenn Tschick auch einen Schock hatte, dann hatte die Frau mindestens fünf Schocks. Vielleicht reichte es schon, dass sie unseren Absturz beobachtet hatte oder dass Tschick ihr erzählte, dass das ein geklautes Auto war, aber sie zitterte wahnsinnig. Sie guckte Tschick an, zeigte auf einen Tropfen Blut, der an seinem Kinn runterlief, und sagte: "O mein Gott." Dann fiel ihr der Feuerlöscher aus der Hand und auf Tschicks Fuß. Tschick kippte sofort rückwärts um. Er landete mit dem Rücken im Gras, hielt sein Bein senkrecht nach oben, griff mit den Händen danach und schrie.

"O mein Gott!", rief die Frau noch einmal und kniete sich neben Tschick ins Gras.

"Scheiße", sagte ich. Ich warf einen kurzen Blick den Steilhang rauf: Immer noch keine Polizei.

"Ist er gebrochen?"

"Woher soll ich das wissen?", schrie Tschick und rollte auf dem Rücken rum.

38

Und das war jetzt die Lage: Da waren wir Hunderte Kilometer kreuz und quer durch Deutschland gefahren, auf Baustellengerüsten über den Abgrund gerollt und von Hort Fricke beschossen worden, wir waren eine Piste- entlang und einen Abhang runtergebrettert, hatten uns fünfmal überschlagen und alles mehr oder weniger ohne Schramme überstanden - und dann kam ein Flusspferd aus dem Gebüsch und zerstörte Tschicks Fuß mit einem Feuerlöscher.

Wir beugten uns über den Fuß, wussten aber nicht, ob er gebrochen war oder nur verstaucht. Jedenfalls konnte Tschick nicht mehr auftreten.

"Das tut mir unendlich leid!", sagte die Frau. Und es tat ihr unendlich leid, das konnte man sehen. Sie schien fast mehr Schmerzen zu haben als Tschick, jedenfalls dem Gesicht nach zu urteilen, und während in meinem Kopf immer noch vollkommene Leere herrschte und Tschick stöhnend hin- und herrollte, war die Frau die Erste, die die Situation langsam wieder unter Kontrolle kriegte. Sie fingerte nochmal an Tschicks Kinn rum, dann nahm sie seinen Unterschenkel hoch. "Aua, aua", sagte sie, während sie den Knöchel hin und her drehte und Tschick wimmerte.

"Du musst ins Krankenhaus", war ihre Schlussfolgerung.

"Warte", wollte ich sagen - da hatte das Flusspferd schon seine Vorderhufe unter Tschick gewuchtet und hob ihn hoch, als wäre er eine Scheibe Brot.

Tschick schrie auf, aber eher vor überraschung als vor Schmerzen. So schnell wie sie aus dem Gebüsch gebrochen war, verschwand diei Frau dort auch wieder. Ich rannte hinterher.

Hinter den Sträuchern parkte ein tarnfarbener 5er BMW. Die Frau warf Tschick auf den Beifahrersitz. Ich konnte hinten einsteigen. Als sie sich hinters Steuer setzte, sackte das Auto links einen halben Meter ab, und Tschick hopste auf seinem Sitz hoch. Wahnsinn, dachte ich noch, aber das Wort hätte ich mir besser für die nächsten Minuten aufgespart.

"Jetzt ist Eile geboten!", erklärte die Frau feierlich, und sie dachte dabei vermutlich nicht in erster Linie an eine Flucht vor der Polizei.

Ich war der Einzige, der sich die ganze Zeit immer wieder umgedreht und bemerkt hatte, dass das Polizeiauto auf Umwegen aucn irgendwo den Steilhang runtergekommen sein musste. In sehr großer Entfernung kachelten sie mit Blaulicht unten an der Böschung entlang.

"Anschnallen", sagte die Frau und trat das Gaspedal durch, und der 5er BMW war in zwei Sekunden auf hundert. Als sie einen Schlenker fur, rutschte ich wie ein Papierflieger über die Rückbank. Tschick stöhnte.

"Anschnallen", wiederholte die Frau.

Ich schnallte mich an.

"Und Sie?", fragte Tschick.

Ich sah aus dem Heckfenster, wie der Verkehr hinter uns wegsackte. Irgendwo war ganz leise der Klang einer Polizeisirene zu hören, aber nicht lange. Und das war auch kein Wunder. Wir fuhren mittlerweile 250. Weder die Frau noch Tschick schienen die Sirene überhaupt gehört zu haben. Sie unterhielten sich über Sicherheitsgurte.

"Ist ja nicht mein Wagen", sagte die Frau. "Ich brauche mindestens zwei Meter." Sie kicherte. Sie redete mit ganz normaler Stimme, aber dieses Kichern von ihr war sehr piepsig, wie bei einem kleinen Mädchen, dem man den Bauch kitzelt.

Wenn Hindernisse vor uns auftauchten, hupte die Frau oder blendete auf, und wenn das nichts half, raste sie in aller Seelenruhe auf der Standspur an den anderen vorbei, als würde sie gerade mit fünfzehn Stundenkilometer die Auffahrt zum McDonald's-Drive-in nehmen. Ihre fünf Schocks hatte sie eindeutig weggesteckt.

"Im Notfall ist das erlaubt", erklärte sie. Dann kicherte sie wieder.

"Und ihr seid also damit gefahren, ja?"

"Wir machen Urlaub", sagte Tschick.

"Und ihr habt das geklaut?"

"Geliehen eigentlich", sagte Tschick. "Meinetwegen aucn geklaut. Aber wir wollten's zurückbringen, ich schwör's."

Der BMW schoss dahin. Die Frau sagte nichts dazu. Was hätte sie auch sagen sollen? Wir hatten ein Auto geklaut, und sie hatte Tschick den Feuerlöscher auf den Fuß geworfen. Ich konnte im Rückspiegel nicht genau erkennen, was in ihrem Gesicht vorging, falls da was vorging. Hysterisch reagierte sie jedenfalls nicht gerade.

Sie umkurvte zwei Lastwagen, und dann sagte sie: "Ihr seid also Autoknacker."

"Wenn Sie das sagen", sagte Tschick.

"Das sage ich."

"Und was sind Sie?"

"Das Auto gehört meiem Mann."

"Ich meine, was machen Sie? Und wissen Sie überhaupt, wo hier ein Krankenhaus ist?"

"Krankenhaus in fünf Kilometern. Und ich bin Sprachtherapeutin."

"Was therapiert man denn so als Sprachthereapeutin?", fragte Tschick. "Die Sprache?"

"Ich bringe Leuten Sprecben bei."

"Säuglingen oder was?"

"Nein. Auch Kindern. Aber hauptsächlich Erwachsenen."

"Sie bringen Erwachsenen das Sprechen bei? Analphabeten oder was?" Tschick verzog das Gesicht und konzentrierte sich jetzt ganz auf die Frau. Ich glaube, er wollte sich hauptsächlich von den Schmerzen im Fuß ablenken, aber irgendwie schien ihm das Thema zu fesseln.

Während die beiden vorne sich unterhielten, schaute ich die ganze Zeit hnten raus und kriegte möglicherweise nicht alles mit von ihrem Gespräch. Und wie gesagt, ich stand vielleicht auch unter Schock. Aber was ich mitkriegte, war Folgendes:

"Stimmbildung", sagte die Frau. "Sänger oder Leute, die viel vortragen oder die nuscheln. Die meisten Leute sprechen nicht richtig. Du sprichst auch nicht richtig."

"Aber verstehen können Sie mich schon?"

"Es geht um Stimme. Dass die Stimme tragfähig ist. Deine Stimme kommt von hier", sagte sie und zeigte irgendwo auf ihren Hals. Sie war, seit sie sich mit Tschick unterhielt, leicht vom Gas gegangen, wahrscheinlich ohne es zu merken. Wir fuhren nur noch 180. Ich tippte Tschick an die Schulter, aber er war völlig in seine Unterhaltung vertieft.

"Ich spreche mit dem Mund, wenn Sie das meinen."

"Normal sprechen ist was anderes als eine tragfähige Stimme. Eine gute, tragfähige Stimme kommt von hier, aus dem Zentrum. Bei dir kommt sie von hier. Sie muss aber von hier kommen." Beim letzten "hier" schlug sie sich zweimal unter die Brust, sodass es wie "hiejaja" klang.

"Von hiejaja?" sagte Tschick und haute sich ebenfalls unter die Brust.

"Du musst dir das vorstellen wie Sport. Der ganze Körper ist beteiligt. Das Zwerchfell, die Bauchmuskulatur, das Becken, das muss alles mit. Zwei Drittel kommt aus dem Zwerchfell, nur ein Drittel aus der Lunge."

160 Stundenkilometer. Wenn das so weiterging, kriegten sie das Auto mit der Sprachtherapie noch zum Stillstand.

"Das Wichtigste ist, dass wir jetzt schnell ins Krankenhaus kommen", sagte ich.

"Geht schon", sagte Tschick. "Tut gar nicht mehr so weh."

Ich vergrub den Kopf in den Händen.

"Wenn du von hier sprichst", sagte die Frau, "kriegst du nur so en Krächzen raus. Da kommt die Luft aus dem Hals, so: Uch, uch. Es muss aber von hier kommen." Sie öffnete den Mund zu einem O und hob mit beiden Händen einen unsichtbaren Schatz vor ihrem Bauch, wozu sie kurz das Lenkrad loslassen musste. Tschick griff ins Steuer.

"Von hier", sagte die Frau und rief: "UHH!"

Ich bekam es mit der Angst. Tschick guckte die Frau schmerzlich begeistert an. Ich versuchte erneut, ihm ein Zeichen zu geben, er verstand es nicht. Oder er beachtete es nicht. Oder der Geisteszustand der Frau war ansteckend. Der Tacho zeigte 140. Noch war die Polizei nicht zu sehen.

"UCHH! UCHH! UCHH!", machte die Frau.

"Uch! Uch!", machte Tschick.

"Zentrum nach unten", sagte sie und ging langsam wieder aufs Gas. "Der Mensch ist wie eine Zahnpastetube. Wenn du unten drückst, kommt oben was raus. - UCHH! UCHH!"

"Uch! Uch!", machte Tschick.

"Ja, besser. UUAAAAAACHHH!"

"Uaaaach!"

Und so ging das ungelogen, bis wir im Krankenhaus waren.

Wir schleuderten die Autobahnausfahrt runter, bogen zweimal scharf rechts ab, und zwei Minuten später standen wir vor einem riesigen weißen Gebäude mitten in der Pampa. Von Polizei keine Spur.

"Eine ausgezeichnete Klinik", sagtre die Frau.

"Ich hab keine Krankenversicherung", sagte Tschick.

Einen kurzen Moment lang wirkte die Frau entsetzt. Aber dann beugte sie sich über Tschick und hakte entschlossen die Tür für ihn auf. "Mach dir keine Sorgen. Ich hab's gemacht, und ich zahl das natürlich. Oder meine Versicherung. Oder wie auch immer. Tapfer."