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Stattdessen ging es rauf auf den Berg. Wir hatten nie einen Plan, was wir machen wollten, aber während wir frühstückten, guckten wir die ganze Zeit auf diesen Berg, der aussah wie der höchste Berg überhaupt, und irgendwann war klar, dass wir da mal raufmussten. Unklar war nur, wie. Isa fand zu Fuß am besten. Das fand ich auch, aber Tschick meinte, zu Fuß wäre ja wohl Schwachsinn. "Wenn du fliegen willst, nimmst du ein Flugzeug, zum Waschen eine Waschmaschine, und wenn du auf den Berg willst, nimmst du das Auto", sagte er. "Wir sind doch nicht in Bangladesch."

Wir kurvten also am Berg entlang durch den Wald, aber es war schwierig, die richtige Abzweigung nach oben zu finden. Erst hinter dem Berg schlängelte sich eine Straße hinauf, und dann krochen wir durch die Felsen voran bis zu einer kleinen Passhöhe. Von da ging die Straße wieder bergab, und wir mussten doch zu Fuß zum Gipfel.

Entweder hatten wir die Seite erwischt, wo die Touristen nicht waren, oder wir waren wirklich die Einzigen an diesem Morgen - jedenfalls begegneten wir auf dem ganzen Weg durchs Gelände nur Schafen und Kühen. Zwei Stunden brauchten wir bis ganz nach oben, aber es lohnte sich, und es sah aus wie auf ganz tollen Postkarten. Auf der höchsten Spitze stand ein riesiges Holzkreuz, darunter irgendwo eine kleine Hütte, und die ganze Hütte war bedeckt mit Schnitzereien. Da setzten wir uns hin und lasen Buchstaben und Zahlen. CKH 23.4.61. Sonny 86. Hartmann 1923.

Das Älteste, was wir finden konnten, war "Anselm Wail 1903". Uralte Buchstaben in uraltem, dunklem Holz, und dazu der Ausblick auf die Berge und die heiße Sommerluft und ein Geruch von Heu, der aus dem Tal hochwehte.

Tschick zog sein Taschenmesser raus und fing auch an zu schnitzen. Und während wir uns sonnten, uns unterhielten und Tschick beim Schnitzen zuguckten, musste ich die ganze Zeit darüber nachdenken, dass wir in hundert Jahren alle tot wären. So wie Anselm Wail tot war. Seine Familie war auch tot, seine Eltern waren tot, seine Kinder waren tot, alle, die ihn gekannt hatten, waren ebenfalls tot. Und wenn er irgendwas in seinem Leben gemacht oder gebaut oder hinterlassen hatte, war es wahrscheinlich auch tot, zerstört, von zwei Weltkriegen verwüstet, und das Einzige, was übrig war von Anselm Wail, war dieser Name in einem Stück Holz. Warum hatte er den da hingeschnitzt? Vielleicht hatte er auch ein Auto geklaut oder eine Kutsche oder ein Pferd oder was sie damals hatten und war herumgeritten und hatte seinen Spaß gehabt. Aber egal, was es war, es würde nie wieder jemanden interessieren, weil nichts übrig war von seinem Spaß und seinem Leben und allem, und nur wer hier auf dem Gipfel stieg, erfuhr noch von Anselm Wail. Und ich dachte, dass es mit uns logisch genauso sein würde, und da wünschte ich mir, Tschick hätte unsere vollen Namen ins Holz geritzt. Aber allein für die sechs Buchstaben und zwei Zahlen brauchte er schon fast eine Stunde. Er machte es sehr ordentlich, und dann stand da:

AT MK IS 10

"Jetzt denken alle, wir wären 1910 da gewesen", sagte Isa. "Oder 1810."

"Ich find's schön", sagte ich.

"Ich find's auch schön", sagte Tschick.

"Und wenn ein Witzbold kommt und ein paar Buchstaben dazwischenschnitzt, wird das die ATOMKRISE 10", sagte Isa, "die berühmte Atomkrise des Jahres 2010."

"Ach, halt doch die Klappe", sagte Tschick, aber ich fand es eigentlich ganz lustig.

Allein dass jetzt unsere Buchstaben neben all den anderen Buchstaben standen, die von Toten gemacht worden waren, zog mir am Ende doch irgendwie den Stecker.

"Ich weiß nicht, wie es euch geht", sagte ich, "aber die ganzen Leute hier, die Zeit - icb meine, der Tod." Ich kratzte mich hinterm Ohr und wusste nicht, was ich sagen wollte. "Ich wollte sagen", sagte ich, "ich finde es toll, dass wir jetzt hier sind, und ich bin froh, dass ich mit euch hier bin. Und dass wir befreundet sind. Aber man weiß ja nie, wie lange - ich meine, ich weiß nicht, wie lange es Facebook noch gibt - und eigentlich würde ich gern wissen, was aus euch mal wird, in fünfzig Jahren."

"Dann googelst du einfach", sagte Isa.

"Und Isa Schmidt kann man googeln?, sagte Tschick. "Gibt's da nicht hunderttausend?"

Ich wollte eigentlich auch was anderes vorschlagen", sagte ich. "Wie wär's, wenn wir uns einfach in fünfzig Jahren wiedertreffen? Genau hier, in fünfzig Jahren. Am 17. Juli, um fünf Uhr nachmittags, 2060. Auch wenn wir vorher dreißig Jahre nichts mehr voneinander gehört haben. Dass wir alle wieder hierherkommen, egal, wo wir dann gerade sind, ob wir Siemens-Manager sind oder in Australien. Wir schwören uns das, und dann reden wir nie wieder drüber. Oder ist das blöd?"

Nein, fanden sie gar nicht blöd. Wir standen um dieser Schnitzerei rum und schworen, und ich glaube, wir dachten all drüber nach, ob das sein könnte, dass wir in fünfzig Jahren noch immer am Leben wären und wieder hier. Und dass wir dann alles mickrige Greise wären, was ich unvorstellbar fand. Dass wir wahrscheinlich nur mit Mühe den Berg raufkommen würden, dass wir all eigene blöde Autos hätten, dass wir im Innern warscheinlich noch genau dieselben geblieben wären und dass der Gedanke an Anselm Wail mich noch immer genauso fertigmachen würde wie heute.

"Machen wir", sagte Isa, und Tschick wollte dann noch, dass wir alle unsere Finger ritzen und einen Tropfen Blut auf die Buchstaben gießen, aber Isa meinte, wir wären docn nicht Winnetou und dieser andere Indianer, und da haben wir's dann nicht gemacht.

Als wir abstiegen, sahen wir weit unter uns zwei Soldaten. Auf dem Pass, wo der Lada parkte, standen jetzt ein paar Reisebusse. Isa lief sofort zu einem hin, auf dem in unlesbarer Schrift irgendwelche Dinge standen, und redete auf den Fahrer ein. Tschick und ich sahen uns das vom Lada aus an, und dann kam Isa plötzlich zurückgesprintet und rief: "Habt ihr mal dreißig Euro? Ich kann euch das wiedergeben jetzt, aber später, ich schwör! Meine Halbschwester hat Geld, die schuldet mir noch - und ich muss jetzt da lang."

Ich war sprachlos. Isa holte ihr Holzkästchen aus dem Lada, sah mich und Tschick schief an und sagte: "Mit euh schaff ich's nie. Tut mir leid." Sie umarmte Tschick, dann sah sie mich einen Moment lang an und umarmte mich auch und küsste mich auf den Mund. Sie sah sich nach dem Reisebus um. Der Fahrer winkte. Ich riss dreißig Euro aus der Tasche und hielt sie ihr wortlos hin. Isa umarmte mich nochmal und rannte davon. "Ich meld mich!", rief sie. "Kriegst du wieder!" Und ich wusste, dass ich sie nie wiedersehen würde. Oder frühstens in fünfzig Jahren.

"Du hast dich nicht schon wieder verliebt?", fragte Tschick, als er mich vom Asphalt auf sammelte. "Im Ernst, du hast ja echt ein glückliches Händchen mit Frauen, oder wie sagt man so?"

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Die Sonne knallte von vorn, der Asphalt sah in der Entfernung aus wie flüssiges Metall. Wir waren längst aus den Bergen raus, und Tschick steuerte auf eine Kreuzung zu, an der Autos auf der Straße standen, die sich nicht bewegten. Sie zitterten leicht in der Mittagshitze, als wären sie unter Wasser. Es war keine Straßensperre, eher ein Unfall, aber ein Auto hatte ein blaues Blinklicht auf dem Dach.

Tschick schwenkte sofort nach rechts in einen Feldweg zwischen hohen Strommasten. Der Weg war breit genung, dass ein Lkw dort hätte fahren können, aber völlig von Gras überwuchert, als hätte ihn schon lange niemand mehr benutzt. Die Polizei schien uns nicht bemerkt zu haben. Wir konnten sie allerdings auch nur noch wenige Sekunden lang sehen, dann hatte sich der Feldweg in einen Wald aus Birken geschlängelt. Unter den großen Birken kleinere Birken, und unter den kleineren Birken noch kleinere Birken, sodass man nur noch ein paar Meter weit sehen konnte. Allein ober war noch Himmel und ab und zu ein Strommast. Der Weg wurde immer schmaler und machte nicht gerade den Eindruck, als ob er irgendwohin führen würde. Schließlich endete er an einem Holzgatter, das schief in den Angeln hing. Dahinter lag bis zum Horizont eine sumpfige Ebene, und diese sumpfige Ebene sah so anders aus als die ganze andere Landschaft davor, dass wir uns einen Blick zuwarfen: Wo sind wir denn hier?

Wir beratschlagten kurz, dann ging ich raus und zerrte das Gatter auf. Tschick fuhr durch, und ich machte das Gatter wieder zu.

Flach gewölbte, etwas hellere Stellen, dazwischen tiefgrüner, fast violetter Sumpf. Im Sumpf verstreut große, quadratische Betonquader, in denen senkrecht Metallstäbe steckten, mit gelben Markierungen an der Spitze. Zuerst waren es nur ein paar Quader, aber je weiter wir kamen, desto voller lag die Landschaft mit diesen Betonblöcken mit dem Metallstab obendrin. Alle paar Meter einer, bis zum Horizont. Man hätte eigentlich wieder Richard Clayderman einlegen können, so traurig sah das aus, wie trauriges Klaviergeklimper. Auch der Weg wurde langsam sumpfig, Tschick kroch im ersten Gang durch die weichen Schlaglöcher, die Strommasten immer neben uns. Ich schwitzte. Vier Kilometer. Fünf Kilometer. Das Terrain hob sich ein wenig. Die Reihe der Strommasten endete, vom letzten hingen die Kabel runter wie frischgewaschenes Haar, zehn Meter dahinter war die Welt zu Ende.

Und das musste man gesehen haben: Die Landschaft hörte einfach auf. Wir stiegen aus und stellten uns auf die letzten Grasbüschel. Vor unseren Füßen war die Erde senkrecht weggefräst, mindestens dreißig, vierzig Meter tief, und unten lag eine Mondlandschaft. Weißgraue Erde, Krater, so groß, dass man Einfamilienhäuser dadrin hätte bauen können. Ein ganzes Stück links von uns begann eine Brücke über den Abgrund. Wobei, Brücke ist wahrscheinlich das falsche Wort. Es war eher so ein Gestell aus Holz und Eisen, wie ein riesiges Baustellengerüst, schnurgerade bis zum anderen Ufer. Vielleicht zwei Kilometer, vielleicht mehr. Die Entfernung war schwer zu schätzen. Was drüben lag, war auch nicht zu erkennen, vielleicht Sträucher und Bäume. Hinter uns der große Sumpf, vor uns das große Nichts, und wenn man genau hinhörte, hörte man auch genau überhaupt nichts. Kein Grillenzirpen, kein Gräserrascheln, kein Wind, keine Fliege, nichts.

Wir rätselten eine Weile, was das sein sollte, dann machten wir uns zu Fuß auf, um das Gerüst zu besichtigen. Es war breiter, als es aus der Entfernung ausgesehen hatte. Etwa drei Meter und mit dicken Holzbohlen obendrauf. Einen anderen Weg am Abgrund vorbei schien es nicht zu geben, und weil wir auc nicht zurückfahren wollten, holte Tschick schließlich den Lada. Er rollte ein paar Meter auf das Gestell - oder die Brücke oder den Damm oder was auch immer - und sagte: "Geht doch."

Aber ganz geheuer war mir das nicht. Ich stieg wieder ein, und langsamer als mit Schritttempo fuhren wir über die Holzbohlen. Das Geräusch, das die Bohlen machten, war so hohl und unheimlich, dass ich schließlich wieder ausstieg, um dem Auto voranzugehen. Ich hielt Ausschau nach kaputten Planken, trat mit dem Fuß auf verdächtige Stellen und schaute dazwischen dreißig Meter in die Tiefe. Tschick rollte im Abstand von ein paar Wagenlängen hinter mir her. Senn uns jemand entgegengekommen wäre, hätten wir alt ausgesehen. Andererseits war es auch nicht gerade eine Straße mit Durchgangsverkehr.

Als wir so weit gekommen waren, dass wir die Kante, von der wir gestartet waren, kaum noch und das entgegengesetzte Ufer noch nicht wirklich sehen konnten, machten wir eine Pause. Tschick holte Cola aus dem Auto, und wir setzten uns auf den Rand der Holzbohlen oder versuchten es zumindest. Das Holz war so glühend heiß, dass man erst mal eine Weile Schatten auf eine Stelle werfen musste, bevor man sich setzen konnte. Dann starrten wir in die Kraterlandschaft, und als ich lange genug in diese Kraterlandschaft gestarrt hatte, dachte ich an Berlin. Ich hatte plötzlich Schwierigkeiten, mir vorzustellen, dass ich dort einmal gelebt hatte. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass ich da zur Schule gegangen war, und ich konnte mir auc nicht vorstellen, dass ich es einmal wieder tun würde.