26

Zum Abschied gingen sie noh alle mit uns ans Gartentor, und da bekamen wir einen riesigen Kürbis geschenkt. Der lag da rum, ein riesiger Kürbis, falls wir Hunger hätten, könnten wir den mitnehmen. Wir nahmen ihn und wussten nicht mehr, was wir sagen sollten. Sie winkten uns lange hinterher.

"Tolle Leute", sagte Tschick, und ich fragte mich, ob er das ernst meinte. Mir schien, dass er das nicht ernst meinen konnte, er hatte sich ja auch vorher mit dem Zeigefinger in die Stirn getippt. Aber sein Gesichtsausdruck machte mir klar, dass er es ganz sicer ernst meinte. Dass er beides ernst meinte. Der Zeigefinger war ernst gemeint gewesen, und "tolle Leute" war auch ernst gemeint, und er hatte vollkommen recht: Es waren tolle, spinnerte Leute. Die nett waren und ein bisschen durchgeknallt, verdammt gutes Essen machten und außerdem wahnsinnig viel wussten - außer wo der Supermarkt ist. Das wussten sie nicht.

Aber wir fanden ihn schließlich auch so. Als wir mit zwei risigen Norma-Einkaufstüten und einem Kürbis beladen wieder in die Straße bogen, wo der Lada parkte, stellte ich den Kürbis auf die Straße und schlug mich seitwärts in die Büsche, um zu pinkeln. Tschick trottete weiter, ohne sich umzudrehen - und ich erzähle das auch nur so ausführlich, weil es leider wichtig ist.

Als ich aus den Büschen wieder rauskam, war Tschick hundert oder hundertfünfzig Meter weitergelaufen und nur noch wenige Schritte vom Lada entfernt. Ich nahm den Kürbis wieder hoch, und im selben Moment kam aus einer Einfahrt genau in der Mitte zwischen mir und Tschick ein Mann, der ein Fahrrad auf die Straße zerrte. Er hob das Fahrrad hoch und stellte es umgedreht auf Lenker und Sattel. Der Mann hatte ein gelbliches Hemd an, eine grünliche Hose mit zwei Fahrradklammern, und auf dem Gebäckträger lag eine weißliche Mütze, die davonrollte, als er das Fahrrad umdrehte. Und erst an dieser Mütze erkannte ich den Polizisten. Ich konnte auch sehen, was wir auf dem Heimweg nicht gesehen hatten: Vor der großen Scheune stand nicht nur ein kleines rotes Ziegelsteinhaus, an dem Haus hing vorne auch ein kleines, grün-weißes Polizeischild dran. Der Dorfsheriff.

Der Dorfsheriff hatte uns nicht gesehen. Er kurbelte nur an den Pedalen seines Fahrrads, zog ein Schlüsselbund ajus der Tasche und versuchte, die abgegangene Kette wieder aufs Ritzel zu drücken. Das funktionierte nicht, und er musste erst die Finger zu Hilfe nehmen. Dann betrachtete er seine schmutzigen Hände und rieb sie gegeneinander. Und dann sah er mich. Fünfzig Meter entfernt und leicht bergauf: ein Junge mit einem riesigen Kürbis. Was sollte ich machen? Er hatte gesehen, dass ich in seine Richtung kam, also ging ich erst mal weiter. Ich ntte ja nur einen Kürbis, und der Kürbis gehörte mir. Meine Beine zitterten, aber es schien die richtige Entscheidung zu sein: Der Dorfsheriff wandte sich wieder seinem Fahrrad zu. Doch dann guckte er nochmal hoch und entdeckte Tschick. Tschick war in diesem Moment beim Lada angekommen, hatte seine auf die Rückbank gehievt und war im Begriff, sich auf den Fahrersitz zu setzen. Die Hände des Polizisten hörten auf gegeneinanderzureiben. Er schahte starr in die Richtung, machte einen Schritt vorwärts und blieb wieder stehen. Ein Junge, der in ein Auto einsteigt, ist noch nicht unbedingt verdächtig. Auch wenn es die Fahrertür ist. Aber sobald Tschick den Motor starten würde, war klar, was als Nächstes passierte. Ich musste was tun. Ich umklammerte mit beiden Händen den Kürbis, hob ihn hoch über meinen Kopf und brüllte die Straße runter: "Und vergiss nicht, den Schlafsack mitzubringen!"

Was Besseres fiel mir nicht ein. Der Polizist drehte sich zu mir um. Tschick hatte sich ebenfalls umgedreht. "Vater sagt, du sollst den Schlafsack mitbringen! Den Schlafsack!", brüllte ich noch einmal, und als der Polizist wieder zu Tschick hinguckte und Tschick zu mir, fasst ich mir schnell an Schädeldecke und Hüfte (Mütze, Pistole), um zu erklären, was dieser Mann von Beruf war. Weil, ohne Mütze und nur mit dieser grünlichen Hose war das nicht leicht zu erkennen. Ich muss ziemlich bescheuert ausgesehen haben, aber ich wusste auch nicht, wie man einen Polizisten sonst darstellt. Und Tschick begriff auch so, was los war. Er verschwand sofort im Auto und kam mit einem Schlafsack in der Hand wieder rauys. Dann machte er die Fahrertür hinter sich zu und tat, als würde er abschließen (Vater hat mir den Schlüssel gegeben, ich musste nur was holen), und ging mit dem Schlafsack beladen auf mich und den Polizisten zu. Dcoh nur etwa zehn Schritte. Ich war mir nicht hundertprozentig sicher warum er stehen blieb. Aber etwas im Gesicht des Polizisten musste ihm wohl klargemacht haben, dass unser Täuschungsmanöver nicht die Theatersensation des Jahrhunderts werden würde.

Denn mit einem Mal ging Tschick wieder rückwärts. Er fing an zu rennen, der Polizist rannte hinterher, aber Tschick saß schon am Steuer. Rasend schnell parkte er rückwärts aus, und der Polizist, immer noch vierzig Meter entfernt, beschleunigte wie ein Weltmeister. Nicht, um den Wagen einzuholen vermutlich, das konnte er auf keinen Fall schaffen, aber um das Kennzeichen zu lesen. Heilige Scheiße. Ein Sprintweltmeister als Dorfsheriff. Und ich stand die ganze Zeit wie gelähmt mit diesem Kürbis auf der Straße, als der Lada schon auf den Horizont zuhielt und der Polizist sich endlich zu mir umdrehte. Und was ich dann gemacht hab - frag mich nicht. Normal und mit Nachdenken hätte ich das garantiert nicht gemacht. Aber es war ja schon nichts mehr normal, und so dumm war es dann vielleicht auch wieder nicht. Ich rannte nämlich zum Fahrrad hin. Ich warf den Kürbis weg und rannte zum Fahrrad vom Polizisten. Ich war jetzt deutlich näher dran als der Polizist, schleuderte das Rad am Rahmen herum und sprang in den Sattel. Der Polizist brüllte, aber glücklicherweise brüllte er noch in einiger Entfernung, und ich trat in die Pedale. Bis zu diesem Moment war ich nur wahnsinnig aufgeregt gewesen, aber dann wurde es der reinste Alptraum. Ich trat mit aller Kraft und kam nicht von der Stelle. Die Gangschaltung war im hundertsten Gang oder so, und ich konnte den Hebel nicht finden. Das Geschrei kam immer näher. Ich hatte Tränen in den Augen, und meine Oberschenkel fühlten sich an, als würden sie vor Anstrengung gleich platzen. Der Polizist brauchte im Grunde nur noch di eHand nach mir auszustrecken, und dann kam ich langsam in Fahrt und fuhr ihm davon.

27

Ich schoss über das Kopfsteinpflaster durchs Dorf. Bis zum Marktplatz brauchte ich keine neunzig Sekunden, und konnte mir ausrechnen, wie gefährlich das war, weil der Polizist zu diesem Zeitpunkt vielleicht längst am Telefon hing. Wenn er nicht doof war - und er hatte nicht den Eindruck gemacht, als wäre er doof--, rief er einfach jemanden an, der mich am Markt abfangen konnte. Vielleicht gab es hier noch mehr Polizisten. Ich raste mit Höchstgeschwindigkeit zwischen grauen Häusern durch und um die Ecken und endlich auf einem kleinen Weg direkt in die Felder.

In der Dämmerung lag ich im Wald, allein, keuchend und aufgeregt, mit dem Polizeifahrrad unter einem dichten Gebüsch, und wartete. Und überlegte. Und wurde immer verzweifelter. Was sollte ich machen? Ich war irgendwo hundert oder zweihundert Kilometer südlich oder südöstlich von Berlin in einem Wald, Tschick fuhr gerade mit einem hellblauen Lada mit Münchner Kennzeichen sämtlichen alarmierten Polizeieinheiten der Umgebung davon, und ich hatte keine Ahnung, wie wir uns jemals wiederfinden sollten. Normalerweise würde man in so einem Fall wahrscheinlich versuchen, sich dort wiederzutreffen, wo man sich aus den Augen verloren hat. Das ging jetzt aber schlecht: Da stand das Haus des Dorfscheriffs.

Eine andere Möglichkeit wäre vielleicht gewesen, zu Friedemanns Familie zu gehen und dort eine Nachricht zu hinterlassen. Oder zu hoffen, dass Tschick eine für mich hinterlassen würde. Aber aus irgendwelchen Gründen kam mir das sehr unwahrscheinlich vor. Das Dorf war winzig, die Leute kannten sich garantiert alle, und Tschick hätte auf keinen Fall nochmal mit dem Auto ins Dorf reingekonnt. Er hätte es höchstens nach Anbruch der Nacht zu Fuß versuchen können, auf die Gefahr hin, dass alle im Dorf längst von dem Vorfall wussten. Und das erschien mir auch deshalb so unwahrscheinlich, weil etwas ganz anderes mir auf einmal viel wahrscheinlicher erschien.

Wenn man sich nicht da wiedertreffen kann, wo man sich aus den Augen verloren hat, geht man eben an den letzten sicheren Ort zurück, wo man vorher war: die kleine Aussichtsplattform mit dem Kiosk und den Holunderbüschen.

Das schien mir jedenfalls logisch, während ich da mit dem Gesicht im Dreck lag. Das war die einfachste Lösung, und je länger ich darüber nachdachte, desto überzeugter war ich, dass Tschick da auch draufkommen würde. Weil ich ja auch draufgekommen war. Außerdem lag die Aussichtsplatform ganz günstig. Sie war weit genug vom Dorf entfernt, aber nah genug, dass man sie mit dem Fahrrad erreichen konnte. Und Tschick musste gesehen haben, dass ich mit dem Fahrrad abgehauen war. So verbrachte ich die halbe Nacht in diesem Gebüsch und fuhr dann beim ersten Lichtstrahl mit dem Fahrrad zurück. Ich fuhr einen riesigen Bogen um das Dorf herum und durch den Wald und über die Felder. Der Weg war nicht sehr schwer zu finden, aber es war viel, viel weiter, als ich gedacht hatte. Ich sah die Hügelkette in der Ferne im Nebel, aber sie kam überhaupt nicht näher, und schon nach kurzer Zeit hatte ich großen Durst. Und Hunger hatte ich auch. Rechts auf den Feldern stand ein paar Häuser um eine Backsteinkirche herum, und da fuhr ich dann einfach hin. Der Ort bestand aus drei Straßen und einer Bushaltestelle. Die Straßenschilder waren in einer fremden Sprache, und dachte einen Moment, dass ich schon in Tschechien wäre oder was, aber da konnte ja wohl nicht sein. So was Ähnliches wie eine Grenze hätte ich doch wohl bemerkt.

Es gab auch einen winzigen Laden. Aber der war geschlossen und sah nicht so aus, als würde der demnächst mal wieder aufmachen. Die Schaufenster waren fast undurchsichtig vor Schmutz, drinnen lagen ein halbes Brot und verblichen Kaugummi-Packungen auf einem Tisch, dahinter ein Regal voller DDR-Waschmittel.

An der Bushaltestelle stand ein Geisteskranker, der mitten auf der Straße pinkelte und mit seinem Pimmel herumschlackerte, als ob es ihm großen Spaß machen würde. Sonst war niemand auf der Straße, und die flachen Sonnenstrahlen glänzten auf dem Kopfsteinpflaster wie ein roter Lack. Ich überlegte, einfach an einer Haustür zu klingeln und jemanden zu bitten, mir was zu verkaufen. Aber nachdem ich irgendwo geklingelt hatte - der Name auf dem Klingelschild war Lentz, das weiß ich noch genau --, verließ mich sofort der Mut, und ich fragte nur, ob ich vielleicht ein Glas Leitungswasser haben könnte. Der Mann, der die Tür geöffnet hatte, war halb nackt. Er hatte eine Sporthose an und schwitzte. Jung und durchtrainiert, Bandagen um die Handgelenke. "Ein Glas Leitungswasser!", brüllte er. Er starrte mich an und zeigte dann auf einen Wasserhahn außen am Haus. Während ich aus der Leitung trank, fragte er, ob mit mir alles in Ordnung sei, und ich erklärte ihm, dass ich eine Fahrradtour machen würde. Er lachte und schüttelte den Kopf und fragte nochmal, ob mit mir alles in Ordnung wäre. Ich zeigte auf seine Bandagen und fragte, ob mit ihm alles in Ordnung wäre. Da wurde er sofort ernst und nickte, und die Unterhaltung war zu Ende.

Als ich auf der Aussichtsplattform ankam, war ich ganz allein auf dem Berg, und es war immer noch früh am Morgen. Hinter dem Sägewerk stand nur ein schwarzes Auto, der Kiosk auf dem leeren Parkplatz war in einem Vorhängeschlos gesichert. Ich lief zu den Holunderbüschen hinunter, wo noch Müll von uns lag, aber von Tschick keine Spur. Da war ich wahnsinnig enttäuscht.

Eine Stunde nach der anderen saß ich oben auf der Mauer und wartete. Und wurde immer trauriger. Ausflügler kamen und Reisebusse, aber den ganzen Tag kein Lada. Weiter rumzufahren schien mir nicht klug, weil, wenn Tschick auch rumfuhr, müsste er mich doch irgendwann finden. Und wenn wir beide rumfuhren, würden wir uns nie finden. Irgendwann war ich sicher, dass sie ihn wahrscheinlich geschnappt hätten, und ich richtete mich darauf ein, auch noch die nächste Nacht untrer den Holunerbüschen zu verbringen, als mein Blick auf eine der Abfalltonnen fiel. In dieser Tonne lagen Unmengen von Schokoriegelpapier, leere Bierflaschen und Kronkorken, und da fiel mir plötzlich ein, dass wir unseren ganzen Müll der letzten Nacht ja ebenfalls in diese Tonne geworfen hatten. Wir hatten nichts liegen gelassen unter den Holunderbüschen. Wie ein Wahnsinniger rannte ich zurück - und da lag diese leere Cola-Flasche. Ich guckte sie mir genauer an, und oben im Flaschenhals steckte ein kleiner, zusammengerollter Zettel, auf dem stand: "Bin in der Bäckerei, wo Heckel war. Komm um sechs, T." Der Satz war aber durchgestrichen und ein neuer druntergeschrieben: "Graf Lada arbeitet im Sägewerk. Bleib hier, ich hol dich bei Sonnenuntergang."

Ich saß bis zum Abend glücklich auf der Aussichtsplattform, und dann unglücklich und immer unglücklicher. Tschik kam nicht. Touristen kamen auch nicht mehr, nur ein schwarzes Auto kurvte hinten auf dem Weg herum. Das kurvte da schon seit Dämmerung, und ich weiß nicht, wie blind man eigentlich sein kann, denn erst als das Auto vor mir hielt und ein Mann mit Hitler-Bärtchen die Tür aufmachte, merkte ich, dass das logischerweise auch ein Lada war. Unser Lada.

Ich umarmte Tschick, und dann boxte ich ihn, und dann umarmte ich ihn wieder. Ich konnte mich überhaupt nicht beruhigen.

"Mann!", schrie ich. "Mann!"

"Wie findest du die Farbe?", fragte Tschick, und dann schossen wir schon mit Vollgas den Hügel hinunter.

Ich erzählte, was ich alles gemacht hatte, seit wir uns verloren hatten, aber was Tschick zu erzählen hatte, war deutlich interessanter. Er war auf seiner Flucht zufällig wieder an der Bäckerei vorbeigekommen, wo wir Heckel getroffen hatten, und nicht weit davon hatte er den Lada erst mal geparkt, weil ihm das Rumfahren auf der Straße zu gefährlich wurde. Er hatte sich vor die Bäckerei gesetzt und den ganzen Tag nur Polizeiautos gesehen.

Schließlich war er zu Fuß zu der Aussichtsplattform gelaufen, die nur ein paar Kilometer entfernt war, und dort hatte er zuerst auf mich gewartet, und weil ich nicht kam, weil ich ja im Wald übernachtete, hatte er schließlich den Zettel it dem Bäckerei-Satz in die Cola-Flasche gesteckt und war den ganzen Weg zum Lada zurückgelaufen. Dabei war er an einem Baumarkt vorbeigekommen und hatte Klebeband und einen Karton Sprühdosen geklaut und war dann damit, als keine Polizei mehr auf der Straße war, wieder zur Aussichtsplattform gefahren. Da hatte er den zweiten Satz auf den Zettel geschrieben und dann in dem Sägewerk angefangen, den Lada umzuspritzen. Und an alles andere hatte er auch gedacht: Am Lada hingen jetzt Cottbuser Kennzeichen.

Als ich Tschick von dem Mann mit den Bandagen erzählte und von dem Mann an der Bushaltestelle, meinte er, das wäre ihm auch schon aufgefallen, dass es hier viele Verrückte gab. Nur was es mit den Beschrifungen in fremder Sprache auf sich hatte, wusste er auch nicht. "Russisch ist das jedenfalls nicht", sagte er, und wir schauten auf ein paar merkwürdige Schilder, die im Licht der ersten Laternen vorüberglitten.

28

Am nächsten Tag waren wir wieder auf der Autobahn. Diesmal nicht aus Versehen. Wir fühlten uns sicher genug, wir wollten schneller vorankommen, und das taten wir auch. Und zwar ungefähr fünfzig Kilometer. Dann zeigte Tschick auf die Tankanzeige, die schon weit im roten Bereich war.

"Scheiße", sagte er.

Daran hatten wir vorher gar nicht gedacht, dass wir ja tanken müssten. Im ersten Moment schien mir das auch keimn großes Problem. Zwei Kilometer vor uns war eine Raststätte, und wir hatten Geld genug. Aber dann fiel mir ein, dass zwei Achtklässler im Auto beim Tankstellenpersonal wahrscheinlich nicht wahnsinnig gut ankommen würden. Da hätte man auch früher draufkommen können.

"Hier, fünfzig Otzen! Rest ist für Sie", sagte Tschick zu einem eingebildeten Tankwart und lachte sich halb tot.

Trotzdem fuhrem wir an der Raststätte erst mal raus. Es war kurz nach Mittag, und es wimmelte vom Leuten. Tschick steuerte hinten an den Diesel-Zapfsäulen vorbei und parkte zwischen zwei großen Lastwagen mit Anhängern, wo uns keiner sehen konnte. Wir schauten uns deprimiert an um. Tschick meinte, dass wir hier nie an Benzin kommen würden, und ich schlug vor, einfach mit dem Tennisball das nächste Auto aufzumachen.

"Viel zu viel Betrieb", sagte Tschick.

"Warten wir einfach, bis weniger Betrieb ist."

"Warten wir einfach bis zum Abend", sagte er, "dann geht einer zu der Zapfsäule ganz außen, der andere fährt mit dem Lada ran - und zack, tanken und weg. Sparen wir außerdem Geld."

Tschick fand, das wäre eimn brillanter Plan, mindestens Hannibal über die Alpen. Und ich hätte ihm vielleicht sogar zugestimmt, wenn ich nicht gewusst hätte, wie Tanken geht. Aber ich hatte noch nie so einen Tankschlauch in der Hand gehabt, und es stellte sich raus, dass Tschick auch noch keinen in der Hand gehabt hatte. Da ist ja nicht nur ein großer Hebel im Griff, sondern auch noch ein kleiner zum Feststellen oder so. Ich hatte meinem Vater schon oft zugesehen, aber nie genau genung hingeguckt.

Wir kauften deshalb erst mal zwei Magnum an der Tankstelle und setzten uns auf die Stufe gegenüber den Zapfsäulen und guckten den Leuten beim Tanken zu. Es schien wirklich nicht so schwierig zu sein. Nur dass es immer eine Ewigkeit auerte, bis der Tank voll war. Und immer standen Leute daneben, und der T ankwart hatte alles im Blick dirch seine Panoramascheiben. Wir hätten natürlich auch nur ein paar Liter tanken und abrauschen können, aber dann hätten wir an der nächsten Raststätte ja gleich wieder rausgemusst.

"Hast du den Tennisball nidht mehr?", fragte ich. Ich zeigte über den ganzen Parkplatz: so viele schöne Autos.

"Wir können nicht jedes Mal ein neues Auto klauen, wenn der Tank leer ist."

"Aber du hast den Ball noch?" Ich sah Tschick an. Er hatte seine Arme um die Knie geschlungen und den Kopf in den Armen vergraben.

"Jajaja", sagte er und erklärte, dass wir den Lada ja eigentlich auch zurückbringen wollten und dass wir nicht nacheinander hundert Autos klauen könnten und wo weiter. Und ich fand das alles einleuchtend. Aber wenn unsere Reise dann deshalb jetzt zu Ende war?

Ein roter Porsche hielt an den Zapfsäulen, eine junge Frau mit glatten blonden Haaren stieg aus und griff mit rosa Fingernägeln nach dem Tankschlauch - und plötzlich fiel mir ein, wie wir an Benzin kommen konnten. Wir mussten das Benzin doch nur aus einem anderen Auto rausholen! Das war ganz einfach. Dazu braucbte man nur einen Schlauch. Den steckte man oben in den Tank und saugte einmal an, dann lief das alles oben raus. Das wusste icn aus einem Buch, das ich zur Einschulung geschenkt bekommen hatte, ein Bucn, wo einem die ganze Welt erklärt wird, ein Buch für Sechsjährige. Und logischerweise wurde Sechsjährigen da nicht erklärt, wie man Benzin klaut. Aber ich erinnerte mich an die Abbildung von einem gezeichneten Tisch, auf dem ein gezeichneter Topf stand. In dem Topf war Wasser, und über den Rand vom Topf floss das Wasser über einen Schlauch glatt raus. Das beruhte auf irgendeiner physikalischen Kraft.

"Was willst du mir erzählen? Dass das Wasser von unten nach oben läuft?"

"Du musst ansaugen."

"Noch nie was won Erdanziehung gehört? Das läuft niht nach oben.

"Weil es ja danach nach unten läuft. Es läuft insgesamt mehr nach unten, deshalb."

"Aber das weiß das Benzin doch nicht, dass es nachher noch runtergeht."

"Das ist ein physikalisches Gesetz. Das hat auch einen Namen, irgendwas mit Kräfte. Und Röhren. Kräfte-irgendwas-Gesetz."

"Quatsch", sagte Tschick, "Quatsch-mit-Soße-Gesetz."

"Hast du das nie im Film gesehen?"

"Ja, im Film."

"Ich weiß das aus einem Buch", sagte ich. Ich sagte lieber nicht, dass es ein Buch für Sechsjährige gewesen war. "Irgendwas mit K. Kapitalkraft. Gesetz der kapitalen Kraft oder so."

"Kapitale Scheiße, Mann."

"Nein, es ist auch was anderes ... ich weiß! Kommunal, das Prinzip der kommunalen Röhren."

Da sagte Tschick erst mal nichts mehr. Glauben konnte er das noch immer nicht. Aber dass mir der Name vom Gesetz eingefallen war, hat ihm den Wind aus den Segeln genommen. Ich hab ihm noch erklärt, dass die Kommunalkraft noch stärker ist als die Erdanziehungskraft und alles, aber hauptsächlich, um uns Mut zu machen und weil ich nicht wollte, dass die Reise schon zu Ende war. Weil, gesehen hatte ich das mit dem Schlauch noch nie.

Wir aßen noch ein Magnum und dann noch eins, und als wir dann immer noch keine bessere Idee hatten, beschlossen wir, es wenigstens mal zu versuchen.