24

Als ich am Morgen erwachte, war ich allein. Ich guckte mich um. Leichter Nebel lag auf der kleinen Wiese, von Tschick keine Spur. Aber weil seine Luftmatratze noch da war, machte ich mir erst mal keine allzu großen Gedanken. Ich versuchte, noch ein bisschen weiterzuschlafen, aber irgendwann trieb die Unruhe mich hoch. Ich ging zur Aussichtsplatform und schaute einmal von allen Seiten runter. Ich war der einzige Mensch auf dem Berg. Der Kiosk war noch geschlossen. Die Sonne sah aus wie ein roter Pfirsich in einer Schüssel Milch, und mit den ersten Sonnenstrahlen kam eine Gruppe Fahrradfahrer den Weg raufgefahren, und dann dauerte es keine zehn Minuten, bis auch Tschick den Berg hochgestapft kam. Ich war ziemlich erleichtert. Er war einfach einmal zum Sägewerk runtergelaufen und hatte nach dem Lada geguckt, ob der noch da stand. Er stand noch da. Wir beratschlagten eine Weile hin und her und entschieden uns schließlich, doch sofort mit dem Auto weiterzufahren, weil dieses Warten irgendwie keinen Sinn machte.

Währenddessen hatten die Radfahrer sich neben uns auf der Mauer breitgemacht, ein Dutzend Jungen und Mädchen in unserem Alter und ein Erwachsener. Die frühstückten jetzt und redeten leise miteinander, und sie sahen wirklich merkwürdig aus. Für einen Klassenausflug war die Gruppe zu klein, für eine Familie zu groß und für die Tour des Behindertenheims zu gut gekleidet. Aber irgendwas stimmte mit denen nicht. Sie trugen alle so Klamotten. Keine Markenklamotten, aber es sah auch nicht billig aus, im Gegenteil. Sehr teuer und irgendwie behindert. Und sie hatten alle sehr, sehr saubere Gesichter. Ich weiß nicht, wie ich das beschreiben soll, aber die Gesichter waren irgendwie sauber. Das Merkwürdigste aber war der Betreuer. Der redete mit denen, als wären sie seine Vorgesetzten. Tschick fragte ein der Mädchen, aus welchem Heim sie ausgebrochen wären, und das Mädchen sagte: "Aus keinem. Wir sind Adel auf dem Radel. Wir fahren von Gut zu Gut." Sie sagte das sehr ernst und sehr höflich. Vielleicht wollte sie auch einen Witz machen, und es war die Fahrradtour der örtlichen Clownsschule.

"Und ihr so?", fragte sie.

"Wir so?"

"Macht ihr auch eine Radtour?"

"Wir sind Automobilisten", erklärte Tschick.

Das Mädchen wandte sich an den Jungen neben ihr und sagte: "Du hattest unrecht. Es sind Automobilisten."

"Und ihr seid was genau? Adel auf dem Radel?"

"Was findest du daran so bemerkenswert?"

"Ja, aber Adel auf dem Radel?"

"Ja, und ihr: Proleten auf Raketen?"

Mann, war die drauf. Vielleicht war vor der örtlichen Clownsschule auch gerade eine Ladung Koks ausgekippt worden. Was die Jungs und Mädchen auf dem Berg da wirklich machten, haben wir dann nicht mehr rausgefunden, aber tatsächlich habe wir die ganze Gruppe wenig später auf der Landstraße mit dem Lada überholt, und das Mädchen winkte, und wir winkten auch. Also wenigstens das mit dem Radel stimmte. Zu diesem Zeitpunkt fühlten wir uns schon wieder wahnsinnig sicher, und ich schlug Tschick vor, wenn wir uns mal mit Decknamen anreden müssen, dann wäre er Graf Lada und ich Graf Koks.

25

Aber das eigentliche Problem an diesem Vormittag war, dass wir nichts zu essen hatten.

Wir hatten Konservendosen mitgenommen, aber keinen Dosenöffner. Es gab noch drei Scheiben Knäckebrot, aber keine Butter. Und die sechs Fertigpizzas waren aufgetaut absolut ungenießbar. Ich versuchte noch, ein Stück davon mit dem Feuerzeug zu grillen, aber das ging gar nicht, und am Ende verließen sechs Frisbeescheiben den Lada wie Ufos den brennenden Todesstern.

Die Rettung kam ein paar Kilometer weiter: Da zeigte ein gelber Wegweiser nach links auf ein kleines Dorf, und am gleichen Wegweiser hing Werbung: Norma 1 km. Schon aus der Entfernung sah man den riesigen Supermarkt, der wie ein Schuhkarton in der Landschaft stand.

Das Dorf daneben war winzig. Wir fuhren erst einmal ganz durch, parkten vor einer großen Scheune, wo uns keiner sah, und gingen zu Fuß zurück. Obwohl der ganze Ort nur aus ungefähr zehn Straßen bestand, die sich alle an einem Brunnen auf dem Marktplatz trafen, konnten wir von da den Supermarkt nicht mehr entdecken. Tschick wollte nach links. Ich wollte schräg geradeaus, und es war keiner auf der Straße, den man fragen konnte. Wir liefen durch menschenleere Gassen, schließlich kam uns ein Junge auf einem Fahrrad entgegen, einem Holzfahrrad ohne Pedale. Um vorwärtszukommen, musste er die Beine vor- und zurückschleudern. Er war ungefähr zwölf Jahre alt und schätzungsweise zehn Jahre zu alt für dieses Fahrrad. Seine Knie schleiften auf der Erde. Er blieb direkt vor uns stehen und glotzte uns mit riesigen Augen an wie ein großer behinderte Frosch.

Tschick fragte ihn, wo denn hier der Norma wäre, und der Junge lächelte entweder sehr verwegen oder sehr ahnungslos. Er hatte unglaublich viel Zaunfleisch.

"Wir kaufen nicht im Supermarkt", erklärte er bestimmt.

"Inrteressant. Und wo ist er?"

"Wir kaufen immer bei Froehlich."

"Ah, bei Froehlich." Tschick nikte dem Jungen zu wie ein Cowboy, der den anderen Cowboy nicht wehtun will. "Aber uns würde hauptsächlich interessieren, wo es hier zum Norma geht."

Der Junge nickte eifrig, hob eine Hand an den Kopf, als würde er sich kratzen wollen, und zeigte mit der anderen unentschlossen in der Gegend rum. Dann fand sein Zeigefinger plötzlich ein Ziel zwischen den Häusern. Da sah man kurz vorm Horizont ein einsames Gehöft zwischen hohen Pappeln. "Da ist Froehlich! Da kaufen wir immer ein."

"Phantastisch", sagte Tschick. "Und jetzt nochmal ungefähr der Supermarkt.?"

Das viele Zahnfleisch machte uns klar, dass wir mit einer Antwort wahrscheinlich nicht mehr rechnen konnten. Es war aber aucb sonst niemand auf der Straße, den man hätte fragen können.

"Was wollt ihr denn da?"

"Was wollen wir denn da? Maik, Maiki, was wollten wir nochmal im Supermarkt?"

"Wollt ihr einholen? Oder nur gucken?" fragte der Junge.

"Gucken? Gehst du in den Supermarkt, um zu gucken oder was?"

"Komm, lass uns weiter", sagte ich, "wir finden den auch so. Wir wollten Essen kaufen."

Ich hatte den Eindruck, es machte keinen Sinn, den Jungen mit den Froschaugen zu verarschen.

In dem Moment stand eine sehr blasse, sehr große Frau vor einem Haus und rief: "Friedemann! Friedemann, komm rein! Es ist zwölf."

"Ich komme gleich", antwortete der Junge, und jetzt hatte sich seine Stimme verändert. Er hatt plötzlich den gleichen Singsang wie seine Mutter.

"Wieso wollt ihr Essen kaufen?" fragte er noch, und da war Tschick schon zu der Frau hin und fragte sie, wo denn hier der Norma wäre.

"Was für ein Norma?"

"Der Supermarkt", erklärte Friedemann.

"Ah, der große Supermarkt", sagte die Frau. Sie hatte ein ziemlich beeindruckendes Gesicht. Ganz ausgemergelt, aber auch irgendwie vollfit. Sie sagte: "Da kaufen wir nie. Wir kaufen immer bei Froehlich"

"Wir hörten davon." Tschick setzte sein höflichstes Lächeln auf. Er konnte das sehr gut, dieses höfliche Lächeln. Ich hatte immer den Eindruck, er übertrieb es ein bisschen. Aber andererseits sah er ja auch aus wie der Mongolensturm, das glich es wieder aus.

"Was wollt ihr denn da?"

Himmel, war denn die ganze Familie so? Wusste keiner, was man in einem Supermarkt macht?

"Einkaufen", sagte ich.

"Einkaufen", sagte die Frau und verschränkte ihre Arme vor der Brust, als ob sie sie daran hindern wollte, uns zufällig oder gegen ihren Willen den Weg zum Supermarkt zu zeigen.

"Essen! Die wollen Essen kaufen", petzte Friedemann.

Die Frau sah uns misstruisch an, und dann erkundigte sie sich, ob wir nicht von hier wären - und war wir hier wollten. Tschick erklärte ihr die Sache mit der Farradtour, einmal Ostdeutschland quer durch, und die Frau spähte die Straße rauf und runter. Weit und breit kein Fahrrad.

"Und wir haben einen Platten", sagte ich und machte es wie Friedemann und zeigte in eine undefinierbare Richtung. "Aber wir müssten dringend was einkaufen, wir haben praktisch nicht gefrühstückt und -"

Nichts an ihrem Gesichtsausdruck und nichts an ihrer Haltung änderte sich, als sie sagte: "Um zwölf gibt es Mittag. Ihr seid herzlich eingeladen, ihr jungen Leute aus Berlin. Ihr seid unsere Gäste."

Dann zeigte sie Zahnfleisch, nicht ganz so viel wie bei Friedemann, und Friedemann riss mit einem Schrei, der wohl eine Art Begeisterung ausdrücken sollte, sein Rollerfahrrad rum und schleuderte auf das Haus zu. Dort standen mittlerweile drei oder vier kleinere Kinder vor der Tür und starrten uns durch große Froschaugen an.

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und Tschick wusste es auch nicht.

"Was gibt's denn", fragte er schließlich, und es stellte sich raus, dass es Risi-Pisi gab. Was immer das sein mochte. Ich kratzte mich hinterm Ohr, und Tschick ließ seinen letzten großen Kracher los. Er machte die Mongolenschlitze auf, beugte sich ein wenig vor und sagte: "Klingt phantastisch, gnä' Frau."

Das zog mir endgültig den Stecker. Deutsch für Aussiedler, zweite Lektion.

"Warum hast du das gemacht?", flüsterte ich, während wir hinter der Frau hergingen, und Tschick wedelte hilflos mit den Armen, als wollte er sagen: Was sollte ich denn machen?

Aber bevor wir noch der Frau ins Haus folgen konnten, nickte sie schon Friedemann zu, und Friedemann nahm uns an den Händen und führte uns ums Haus rum in den Garten. Mir war nicht wohl dabei. Es beruhigte mich nur, dass Tschick sich noch einmal schnell mit dem Zeigefinger an die Stirn tippte, als Friedemann nicht guckte.

Im Garten stand ein großer weißer Holztisch mit zehn Stühlen. Vier davon waren schon besetzt durch Friedemanns Geschwister. Die Älteste war ein vielleicht neunjähriges Mädchen, der Jüngste ein Sechsjähriger, und alle mit dem gleichen Aussehn. Die Mutter brachte das Essen in einem riesigen Topf, und es gab Reis mit Pampe. Das war offensichtlich Risi-Pisi: Reis mit Pampe. Die Pampe war gelblich, und es schwammen kleine Bröckchen drin und grüne Kräuter. Die Mutter tat allen mit der Suppenkelle auf, aber niemand rührte das Essen an. Stattdessen hoben alle wie auf Kommando ihre Arme und fassten sich an den Händen, und weil uns die ganze Familie anguckte, hoben wir auch die Hände. Ich bekam die von Tschick und Friedemann zu fassen, und die Mutter sagte mit schiefgelegtem Kopf: "Na ja, vielleicht müssen wir das auch nicht unbedingt heute. Begrüßen wir zur Feier des Tages noch einfach unsere weitgereisten Gäste, danken für alles, was uns beschert wurde und - guten Apetit."

Dann wurden die Hände geschüttelt, und es wurde gegessen, und da kann man sagen, was man will, die Pampe schmeckte phantastisch.

Als wir fertig waren, schob Tschick seinen leeren Teller mit zwei Händen von sich weg und erklärte in Richtung der Hausfrau, dass das ja ein bonfortionöses Mahl gewesen wäre, und ich stimmte ihm zu. Die Frau reagierte mit einer gerunzelten Stirn. Ich kratzte mich hinterm Ohr und wiederholte, dass ich schon seit Ewigkeiten nichts so Gutes mehr gegessen hätte, und Tschick ergänzte, es wäre superbonfortionös gewesen. Die Frau zeigte eimn bisschen Zahnfleisch und räusperte sich in ihre Faust, und Friedemann guckte uns mit großen Froschaugen an. Und dann kam der Nachtisch. Alter Finne.

Am liebsten würde ich das ja gar nicht erzählen. Ich erzähl's aber trotzdem. Forentine, die Neunjährige, brachte den Nachtisch auf einem Tablett heraus. Es war irgendwas Schaumiges, Weißes mit Himbeeren drauf, abgefüllt in acht Schälchen. Acht unterschiedlich große Schälchen. Mir war sofort klar, dass es jetzt Streit geben würde um das größte Schälchen - aber da hatte ich mich getäuscht.

Die acht Schälchen standen zusammengedrängt in der Mitte vom Tisch, und niemand rührte sie an. Alle rutschten nur auf ihren Stühlen rum und guckten die Frau an.

"Schnell, schnell!", sagte Friedemann.

"Ich muss erst überlegen", sagte sie und schloss kurz die Augen. "Gut. Ich weiß was." Sie bedachte Tschick und mich mit einem freundlichen Blick und schaute dann wieder in die Runde. "Was bekommt Merope Gaunt für Slytherins Medaillon, als sie -"

"Zwölf Galleonen!", brüllte Friedemann. Er riss ihn vom Stuhl, und der Tisch wackelte.

"Zehn Galleonen!", brüllten alle anderen.

Die Mutter wiegte den Kopf und lächelte: "Ich glaube, Elisabeth war die Schnellste."

Lässig sicherte Elisabeth sich die größte Schüssel mit den meisten Himbeeren. Florentine protestierte, weil sie meinte, genauso schnell gewesen zu sein, und Friedemann hämmerte mit beiden Händen zn seine Stirn und rief: "Zehn! Ich Depp! Zehn!"

Tschick stieß mich unterm Tisch mit dem Fuß an. Ich zuckte die Schultern. Slytherin? Galleonen?

"Ihr habt wohl nicht Harry Potter gelesen?", fragte die Mutter. "Aber egal. Wir wechseln die Themen."

Sie dachte erneut kurz nach, und Elisabeth nahm ein wenig Dessert auf ihren Löffel, hielt es hoch und wartete. Sie wartete, bis Friedemann sie ansah, und schob dann den Löffel langsam in ihren Mund.

"Geografie und Wissenschaft", sagte die Mutter. "Wie heißt das Forschungsschiff, mit dem Alexander von -"

"Pizzaro!", brüllte Friedemann, und sein Stuhl flog nach hinten. Er zog sofort das zweitgrößte Schälchen zu sich, senkte seine Nase auf den Rand und flüsterte: "Zehn, zehn! Wie komme ich auf zwölf?"

"Das ist ungerecht", sagte Florentine, "Ich hab's auch gewusst. Nur weil er immer so brüllt."

Als Nächstes fragte die Mutter, was wir an Pfingsten feiern würden, und ich muss wahrscheinlich nicht dazusagen, wie das Spiel endete. Als nur noch die beiden kleinsten Schälchen übrig waren, fragte die Mutter, wer der erste deutsch Bundespräsident gewesen wäre. Ich tippte auf Andenauer, und Tschick auf Helmut Kohl. Die Mutter wollte uns die Desserts auch so geben, aber Florentine war dagegen. Und die anderen waren auch dagegen. Ich hätte jetzt wirklich gern auf den Nachtisch verzichtet, aber Jonas, der Jüngste, ein ungefähr Sechsjähriger, leierte zuerst der Reihe nach alle Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland runter und riss dann die Spielleitung an sich und fragte uns, was die Hauptstadt von Deutschland wäre.

"Na ja, Berlin, würd ick jetz ma sagen", sagte ich.

"Das hätt ich auch gesagt", sagte Tschick und nickte ernst.

Und man konnte sage, was man wollte, abrer der Schaum mit Himbeeren drauf schmeckte wieder phantastisch. Ich schwöre, dass ich noch nie so geilen Schaum mit Himbeeren drauf gegessen hab.

Am Ende bedankten wir uns für das Essen und wollten uns gerade verabschieden, da sagte Tschick noch: "Ich hab auc mal 'ne Quizfrage. Wie stellt man mit einer Uhr fest, wo Norden ist, wenn die Uhr -"

"Den Stundenzeiger zur Sonne! Dann den halben Winkel zur Zwölf, der zeigt nach Süden!", rief Friedemann.

"Korrekt", sagte Tschick und schob ihm sein Schälchen mit der letzten Himbeere hin.

"Das hätte ich auch gewusst", sagte Florentine. "Nur weil er immer so schreit."

"Also, ich hätt's vielleicht gewusst", sagte Jonas und bohrte mit einem Finger in seinem Ohr. "Vielleicht hätt ich's auch gewusst. Icn weiß nicht, hätt ich das gewusst?" Er sah zweifelnd seine Mutter an, und seine Mutter strich ihm liebevoll übers Haar und nickte, als hätt er's ganz sicher gewusst.