Wir waren auf dem direktesten Weg aus Berlin rausgefahren, den Frühverkehr hinter uns lassend, und steuerten durch die Vororte und über abglegene Wege und einsame Landstraßen. Wobei sich als Erstes bemerkbar machte, dass wir keine Landkarte hatten. Nur enen Straßenplan von Berlin.
"Landkarten sind für Muschis", sagte Tschick, und da hatte er logisch recht. Aber wie man es bis in die Wallachei schaffen sollte, wenn man nicht mal wusste, wo Rahnsdorf ist, deutete sicn da als Problem schon mal an. Wir fuhren desalb erst mal Richtung Süden. Die Walachei liegt nämlich in Rumänien, und Rumänien ist im Süden.
Das nächste Problem war, dass wir nicht wussten, wo Süden ist. Schon am Vormittag zogen schwere Gewitterwolken auf, und man sah keine Sonne mehr. Draußen waren mindestens vierzig Grad. Es war noch heißer und schwüler als am Tag davor.
Ich hatte diesen kleinen Kompass am Schlüsselbund, der mal aus einem Kaugummiautomaten gekommen war, aber in dem Auto zeigte er irgendwie nicht nach Süden, und auch draußen zeigte er, wohin er wollte. Wir hielten extra an, um das rauszufinden, und als ich wieder in den Wagen stieg, merkte ich, dass uner meiner Fußmatte etwas lag - eine Musikkassette. Sie hieß The Solid Gold Collection von Richard Clayderman, und es war eigentlich keine Musik, eher so Klaviergeklimper, Mozart. Aber wir hatten ja nichts anderes, und weil wir auch nicht wussten, was da vielleicht noch drauf war, hörten wir das erst mal. Fünfundvierzig Minuten. Alter Finne. Wobei ich zugeben muss: Nachdem wir ausreichend gekotzt hatten über Rieschah und sein Klavier, hörten wir auch die andere Seite, wo genau das Gleiche drauf war, und es war immer noch besser als nichts. Im Ernst, ich hab's Tschick nicht gesagt, und ich sag's auch jetzt nicht gern: Aber diese Moll-Scheiße zog mir komplett den Stecker. Ich musste immer an Tatjana denken und wie sie mich angeguckt hatte, als ich ihr die Zeichnung geschenkt hatte, und dann kachelten wir mit "Ballade pour Adeline" über die Autobahn.
Tatsächlich hatten wir uns irgendwie auf den Autobahnzubringer verirrt, und Tschick, der zwar einigermaßen fahren konnte, aber so was wie deutsche Autobahn auch noch nicht erlebt hatte, war wild am Rumkurbeln. Als er sich unten einfädeln sollte, legte er eine Vollbremsung hin, gab wieder Gas, bremste nochmal und eierte im Schritttempo auf die Standspur, bevor er es endlich nach links rüberschaffte. Zum Glück rammte uns niemand. Ich hielt die Füße mit aller Kraft vorne gegengestemmt, ich dachte, wenn wir jetzt sterben, liegt das an Rieschah und senem Klavier. Aber wir starben nicht. Das Geklimper setzte zu immer neuen Höhenflügen an, und wir einigten uns darauf, nach der nächsten Ausfahrt nur noch kleine Straßen und Feldwege zu fahren. Ein Problem war auch: Auf der Autobahn war links neben uns ein Mann im schwarzen Mercedes aufgetaucht und hatte zu uns reingeguckt und wie wild Handzeichen gemacht. Er hatte irgendwelche Zahlen mit den Fingern angedeutet und sein Handy hochgehalten und so getan, als ob er sich unser Kennzeichen aufschreiben würde. Mir ging wahnsinnig die Muffe, aber Tschick zuckte einfach die Schultern und tat so, als wäre er dem Mann dankbar, dass er uns darauf aufmerksam machte, dass wir noch mit Licht fuhren, und dann hatten wir ihn im Verkehr verloren.
Tatsächlich sah Tschick ein bisschen älter aus als vierzehn. Aber keinenfalls wie achtzehn. Wobei wir ja auch nicht wussten, wie er in voller Fahrt durch die verschmierten Scheiben aussah. Um das zu testen, machten wir auf einem abgelegenen Feldweg erst mal ein paar Versuche. Ich stellte mich an den Straßenrand, und Tschick musste zwanzigmal an mir vorbeifahren, damit ich gucken konnte, wie er am erwachsensten rüberkam. Er legte beide Schlafsäcke als Kissen auf den Fahrersitz, setzte meine Sonnenbrille wieder auf, schob sie ins Haar, steckte eine Zigarette in seinen Mundwinkel und klebte sich zuletzt ein paar Stücke schwarzes Isolierband ins Gesicht, um einen Kevin-Kuráyi-Bart zu simulieren. Er sah allerdings nicht aus wie Kevin Kuráyi, sondern wie ein Vierzehnjähriger, der sich Isolierband ins Gesicht geklebt hat. Am Ende riss er alles wieder runter und pappte sich einen kleinen, quadratischen Klebestreifen unter die Nase. Damit sah er aus wie Hitler, aber das wirkte aus einiger Entfernung tatsächlich am besten. Und weil wir eh in Brandenburg waren, konnte das auch keine politischen Konflikte geben.
Nur das Problem mit der Orientierung blieb. Dresden war mal ausgeschildert. Dresden lag ziemlich sicher im Süden, und da nahmen wir erst mal diese Richtung. Aber wenn wir die Wahl hatten zwischen zwei Wegen, fuhren wir nach Möglichkeit den kleineren mit weniger Autos, und da gab es dann bald weniger Wegweiser, und die zeigten immer nur bis zum nächsten Dorf und nicht nach Dresden. Geht es nach Burig Richtung Süden oder nach Freienbink? Wir warfen eine Münze. Tschick fand das mit der Münze toll und sagte, wir fahren jetzt nur noch nach Münze. Kopf für rechts, Zahl für links, und wenn sie auf dem Rand liegen bleibt, geradeaus. Die Münze blieb logischerweise nie auf dem Rand liegen, und wir kamen überhaupt nicht mehr voran. Deshalb gaben wir das mit der Münze bald wieder auf und fuhren immer rechts-links-rechts-links, was ich vorgeschlagen hatte, aber das war auch nicht besser. Man sollte meinen, wenn man immer abwechselnd rechts und links fährt, könnte man nicht im Kreis fahren, aber wir schafften es. Als wir zum dritten Mal an enem Wegweiser standen, wo es links nach Markgrafpieske und rechts nach Spreehagen ging, kam Tschick auf die Idee, nur noch Orte anzusteuern, die mit M oder T anfingen. Aber davon gab es eindeutig zu wenig. Ich schlug vor, nur noch Orte mit einer Primzahl als Kilometerstand zu nehmen, aber bei Bad Freienwalde 51 km bogen wir gleich falsch ab, und als uns das auffiel (drei mal siebzehn), waren wir schon wieder sonst wo.
Endlich kam die Sonne durch. In einem Maisfeld gabelte sich der Weg. Nach schräg links ging es endlos auf Kopfsteinpflaster, nach rechts endlos auf Sand. Wir stritten, welcher Weg mehr nach Süden zeigte. Die Sonne stand nicht ganz in der Mitte. Er war kurz vor elf.
"Süden ist da", sagte Tschick.
"Da ist Osten."
Wir stiegen aus und aßen ein paar Schokoladenkekse, dide schon zur Hälfte geschmolzen waren. Die Insekten im Maisfeld machten einen ungeheuren Krach.
"Du weißt schon, dass man mit einer Uhr die Himmelsrichtung bestimmen kann?" Tschick nahm seine Uhr ab. Ein altes, russisches Modell, noch zum Aufziehen. Er hielt sie zwischen uns hin, aber ich wusste nicht, wie das gehen sollte, und er wusste es auch nicht. Man musste wohl irgendwie einen Zeiger auf die Sonne richten, und dann zeigte der andere nach Norden oder so. Aber um kurz vor elf zeigten beide Zeiger auf die Sonne, da war also schon mal eindeutig nicht Norden.
"Vielleicht zeigt er auch nach Süden", sagte Tschick.
"Und um halb zwölf ist Süden dann da?"
"Oder es ist wegen Sommerzeit. Im Sommer funktioniert es nicht. Ich dreh mal eine Stunde zurück."
"Und was soll das ändern? In einer Stunde wandert der Zeiger einmal rum. Die Himmelsrichtung dreht sich doch nicht dauernd."
"Aber wenn der Kompass sich dreht - vielleicht ist es ein Kreiselkompass."
"Ein Kreiselkompass!"
"Hast du noch nie vom Kreiselkompass gehört?"
"Ein Kreiselkompass hat aber nichts mit Kreiseln zu tun. Der kreiselt nicht", sagte ich. "Der hat was mit Alkohol zu tun. Da ist Alkohol drin."
"Du verarschst mich."
"Das weiß ich aus einem Buch, wo die auf dem Scjiff kentern, und dann bricht ein Matrose den Kompass auf, weil er Alkoholiker ist, woraufhin sie komplett die Orientierung verlieren."
"Hört sich nicht gerade wie ein Fachbuch an."
"Stimmt aber. Das Buch hieß, glaube ich, Der Seebär. Oder Der Seewolf."
"Du meinst Steppenwolf. Da geht es auch um Drogen. So was liest mein Bruder."
"Steppenwolf ist zufällig eine Band", sagte ich.
"Also, ich würde sagen, wenn wir nicht genau wissen, wo Süden ist, fahren wir einfach Sandpiste", sagte Tschick und band die Uhr wieder um. "Da ist weniger los."
Und wie immer hatte er recht. Es war eine gute Entscheidung. Eine Stunde lang begegnete uns kein Auto mehr. Wir waren jetzt irgendwo, wo es nicht mal mehr Häuser am Horizont gab. Auf einem Feld lagen Kürbisse, so groß wie Medizinbälle.
"Ich fahr doch jetzt nicht zurück", sagte Tschick und rumpelte, ohne zu bremsen, geradeaus. Die Halme prasselten auf das Blech und gegen die Türen. Tschick ließ den Wagen im Weizenfeld ausrollen, schaltete runter und gab Gas. Der Motor zog langsam an, und wie ein Schneepflug teilte die Kühlerhaube das Meer aus gelbem Weizen. Obwohl der Lada seltsame Geräusche machte, schaffte er den Acker fast mühelos. Nur die Orientierung war schwierig, man konnte nicht richtig über die Halme hinaussehen. Kein Horizont. Ein dritter Regentropfen fiel auf unsere Scheibe. Das Feld ging leicht bergauf. Wir fuhren kleine Kurven und Schnörkel und stießen auf eine Schneise, die wir eine Minute zuvor selbst gepflügt hatten. Ich schlug vor, Tschick sollte versuchen, unsere Namen in den Weizen zu schreiben, sodass man sie von einem Hubschrauber aus lesen konnte oder später bei Google Earth. Schon beim Querbalken vom T verloren wir die Übersicht. Wir fuhren einfach nur herum, krochen immer weiter einen Hügel hinauf, und als wir ganz oben waren, war das Feld plötzlich zu Ende. Tschich bremste in letzter Sekunde. Mit der hinteren Hälfte standen wir noch im Korn, mit der Schauze guckte der Lada in die Landschaft hinaus. Sattgrün und steil abfallend erstreckte sich eine Kuhweide vor uns und gab den Blick frei auf endlose Felder, Baumgruppen und kleine Straßen, Hügel und Hügelketten und Berge und Wiesen und Wald. Auf dem Horizont türmten sich die Wolken. Man sah Wetterleuchten über einem fernen Kirchenturm, aber es war totenstill. Der vierte Regentropfen klatschte auf die Scheibe. Tschick stellte den Motor ab. Ich drehte Clayderman aus.
Minutenlang schauten wir einfach nur. Kleinere, hellere Wolken flogen unter den schwarzen hindurch. Blaugraue Schleier liefen über die entfernten Hügelketten, über die näheren Hügelketten. Die Wolken hoben sich und kamen wie eine Walze auf uns zu.
"Independence Day', sagte Tschick.
Wir holten Brot, Cola und Marmelade raus, und während wir noch damit beschäftigt waren, ein Picknick in unserem Auto aufzubauen, wurde es finster. Es war früher Nachmittag, aber es wurder finster wie die Nacht. Kurz danach sah ich, wie auf einer Weide eine Kuh umfiel. Ich dachte erst, ich hätte mich getäuscht, aber Tschick hatte es auch gesehen. Alle anderen Kühe hatten sich mit dem Arsch in den Wind gedreht, aber die eine war einfach umgekippt. Und dann hörte der Wind so plötzlich auf, wie er gekommen war. Eine Minute passierte nichts, man konnte jetzt nicht mal mehr die Aufschrift auf der Cola-Flasche lesen. Dann klatschte ein Eimer Wasser auf unsere Frontscheibe, und es kam runter wie eine Wand.
Stundenlang. Es krachte und donnerte und goss. Ein armdicker Ast mit Laub dran flog durchs Tal, als ob ein Kind Drachen steigen ließ. Als am Abend der Regen endlich aufhörte und wir aus dem Wagen kletterten, war das ganze Weizenfeld platt, und die Wiesen vor uns hatten sich in Sumpf verwandelt. Es war unmöglich weiterzufahren, wir wären steckengeblieben. Und deshalb verbrachten wir unsere erste Nacht auf dem Hügel, auf den Autositzen schlafend. Wahnsinnig bequem war das nicht, aber wir hatten auch keine großen Alternativen in dem Schlamm da draußen.
Ich schlief kaum, und das Gute dran war, dass ich beim ersten Lichtstrahl schon den Bauern sah, der auf einem Traktor durch das Tal karriolte. Ob er uns wirklich gesehen hatte, weiß ich nicht, aber ich weckte Tschick, der sofort den Wagen startete. Wir rutschten mehr rückwärts durch das Weizenfeld den Hügel runter, als das wir fuhren, und dann ging's zurück auf die Straße und ab.
Die Schokoladenkekse waren mittlerweile wieder essbar, und nachdem wir sie gefrühstückt hatten, versuchte Tschick, mir auf einer Weise am Waldrand das Fahren beizubringen. Ich war zuerst nicht wahnsinnig wild drauf, aber Tschick meinte, es wäre albern, Autos zu klauen, wenn man nicht fahren könnte. Außerdem behauptete er, ich hätte bloß Angst, und das stimmte.
Tschick drehte eine Proberunde für mich, und ich achtete darauf, was er da eigentlich machte, welche Pedale er trat und wie er schaltete. Das hatte ich zwar schon oft bei meinen Eltern gesehen, aber ich hatte nie richtig hingeguckt. Ich wusste nicht mal genau, welches Pedal welches war.
"Links ist Kupplung. Die lässt du ganz langsam kommen und gibst auch Gas und - siehst du? Siehst du?"
Natürlich sah ich gar nichts. Kommen lassen? Gas geben? Tschick erklärte es mir.
Zum Starten legt man den ersten Gang ein. Dabei muss man die Kupplung treten und mit dem rechten Fuß ein bisschen aufs Gaspedal tippen und gleichzeitig die Kupplung loslassen. Das ist das Schwierigste, das Starten. Da brauchte ich zwanzig Anläufe, bis der Lada sich endlich mal in Bewegung gesetzt hatte, und dann war ich gleich so überrascht, dass ich beide Füße hochnahm - das Auto machte einen Satz, und der Motor ging aus.
"Einfach wieder auf die Kupplung, dann kannst du ihn nicht abwürgen. Auch beim Bremsen: Immer gleichzeitig die Kupplung, sonst würgst du ihn ab."
Aber bis zum Bremsen dauerte es noch eine Weile. Das Bremspedal macht auch der rechte Fuß, und damit kam ich erst mal überhaupt nicht klar. Aus irgendeinem Grund wollten immer beide Füße auf die Bremse. Als ich es dann irgendwann hingekriegt hatte, dass der Wagen rollte, gurkte ich im ersten Gang auf der Wiese rum, und das war Wahnsinn. Der Lada machte, was ich willte. Als ich schneller wurde, fing der Motor an zu heulen, und Tschick sagte, ich sollte mal drei Sekunden lang voll die Kupplung treten. Ich trat auf die Kupplung, und Tschick legte den zweiten Gang für mich ein.
"Jetzt mehr Gas!", sagte er, und plötzlich schoss ich mit dreißig dahin. Glücklicherweise war die Wiese sehr groß. Ich übte ein paar Stunden. So lange brauchte ich, bis ich es schaffte, den Wagen selbst zu starten, in den dritten Gang hochzuschalten und wieder runterzuschalten, ohne ihn andauernd abzuwürgen. Ich war schweißgebadet, aber aufhören wollte ich auch nicht. Tschick lag auf der Luftmatratze am Waldrand und sonnte sich, und den ganzen Tag kamen nur zwei Spaziergänger vorbei, die keine Notiz von uns nahmen. Irgendwann machte ich eine Vollbremsung neben Tschick und fragte, wie das mit dem Kurzschließen eigentlich funtioniert. Weil, nachdem ich fahren konnte, wollte ich den Rest natürlich auch noch wissen.
Tschick klappte die Sonnenbrille hoch, setzte sich auf den Fahrersitz und wühlte mit beiden Händen in den Kabeln rum: "Du musst das hier auf Dauerplus legen, die Fünfzehn auf die Dreißig. Da ist die dicke Klemme für. Und die muss dick sein. Damit ist die Zündanlage unter Spannung, und dann machst du die Fünfzig drauf, die führt zum Anlasserrelais - so. Das Steuerplus."
"Und das ist bei jedem Auto so?"
"Ich kenn nur den hier. Aber mein Bruder meint, ja. Die Fünfzehn, die Dreißig und die Fünfzig."
"Und das war's?"
"Du musst noch das Lenkrad totmachen. Der Rest ist pille-palle. Hier mit dem Fuß gegen, und zack. Und die Benzinpumpe überbrücken natürlich."
Natürlich, die Benzinpumpe überbrücken. Ich sagte erst mal nichts mehr. In Physik hatten wir einiges über den elektrischen Strom gelernt. Dass es Plus und Minus gab und die Elektronen wie Wasser durch die Leitung rauschten und so weiter. Aber das hatte mit dem, was in unserem Lada vorging, offenbar nichts zu tun. Steuerplus, Dauerplus - das klang, als ob durch dieses Auto ein ganz anderer Strom floss als diurch die Kabel im Physikunterricht, als wären wir in einer Parallelwelt gelandet. Dabei war wahrscheinlich der Physikunterricht die Parallelwelt. Denn dass es funktionierte, zeigte ja, dass Tschick recht hatte.
Lutz Heckel, die Tonne auf Steltzen, saß am Tisch hinter uns. Neben ihm eine groß Tonne auf Stelzen und eine nicht ganz so große Tonne auf Säulen.
"Und der Mongole ist auch da", sagte Heckel überrascht, aber auch in einem Ton, der wenig Zweifel daran ließ, was er von Mongolen im Allgemeinen und Tschick im Besonderen hielt.
"Verwandtenbesuch", sagte ich und drehte mich schnell wieder um. Es schien mir nicht die Zeit für Diskussionen.
"Ich wusste gar nicht, dass du Verwandte hier hast?"
"Ich", sagte Tschick und prostete mit dem Kaffeebecher über den Tisch. "In Zwietow ist ein Kanakenauffanglager."
Ich konnte mich nicht erinnern, Heckl auf Tatjanas Party gesehen zu haben, aber als Nächstes fragte er, wie wir denn hier wären. Tschick erzählte ihm irgendwas von einer Fahrradtour.
"Klasskamrahn von dir?", hörte ich die große Tonne fragen, und dan hörte ich lange nichts mehr. Irgendwann klimperten am Tisch hinter uns Autoschlüssel, an der Bank wurde gerückt, und Vater Heckel stelzte an uns vorbei in die Bäckerei. Er kam mit einem Armvoll belegter Brötchen wieder raus, packte vier davon auf unseren Tisch und rief: "Ma ordnlich was auffe Bruss für unsre tüchgen Fahrafahra!" Dann klopfte er mit den Knöcheln aufs Holz, und die Tonnenfamilie spazierte über den Marktplatz davon.
"Uh", sagte Tschick, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Wir blieben noch lange vor dieser Bäckerei sitzen. Den Kaffee brauchten wir jetzt. Und die Brötchen auch.
Alle halbe Stunde kurvte ein Reisebus mit Touristen über den Marktplatz. Irgendwo über dem Dorf gab es eine kleine Burg. Tschick saß mit dem Rücken zur Bushaltestelle, aber ich musste die ganze Zeit auf die Rentner gucken, die aus diesen Bussen quollen. Denn es waren ausschließlich Rentner. Sie trugen alle braune oder beige Kleidung und ein lächerliches Hütchen, und wenn sie an uns vorbeikamen, wo es eine kleine Stigung raufging, schnauften sie, als hätten sie einen Marathon hinter sich.
Ich konnte mir immer nicht vorstellen, dass ich selbst einmal so ein beiger Rentner werden würde. Dabei waren alle alten Männer, die ich kannte, beige Rentner. Und auch die Rentnerinnen waren so. Alle waren beige. Es fiel mir ungeheuer schwer, mir auszumalen, dass diese alten Frauen auch einmal jung gewesen sein mussten. Dass sie einmal so alt gewesen waren wie Tatjana und sich abends zurechtgemacht hatten und in Tanzlokale gegangen waren, wo man sie vermutlich als junge Feger oder so was bezeichnet hatte, vor fünfzig oder hundert Jahren. Nicht alle natürlich. Ein paar werden auh damals schon öde und hässlich gewesen sein. Aber auch die Öden und die Hässlichen haen mit ihrem Leben wahrscheinlich mal was vorgehabt, die hatten sic auch Pläne für die Zukunft. Und auch die ganz Normalen hatten Pläne für die Zukunft, und was garantiert nicht in diesen Plänen stand, war, sich in beige Rentner zu verwandeln. Je länger ich über diese Alten nachdachte, die da aus den Bussen rauskamen, desto mehr deprimierte es mich. Am meisten deprimierte der Gedanke, dass unter diesen Rentnerinnen auch welche sein mussten, die nicht langweilig oder öde gewesen waren in ihrer Jugend. Die schön waren, die Jahrgangsschönsten, die, in die alle verliebt gewesen waren, und wo vor seibzig Jahren jemand auf seinem Indianerturm gesessen hat und aufgeregt war, wenn nur das Licht in ihrem Zimmer anging. Diese Mädchen waren jetzt auch beige Rentnerinnen, aber man konnte sie von den anderen beigen Rentnerinnen nicht mehr unterscheiden. Alle hatten sie die gleiche graue Haut und fette Nasen und Ohren, und das deprimierte mich so, dass mir fast schlecht wurde.
"Pst", sagte Tschick und schaute an mir vorbei. Ich folgte seinem Blick und entdeckte zwei Polizisten, die eine Reihe parkender Autos entlanggingen und auf jedes Nummernschild guckten. Wortlos nahmen wir unsere Pappbecher und schlenderten unauffällig zurück zu dem Gebüsch, wo der Lada parkte. Dann fuhren wir den Weg, den wir morgens gekommen waren, zurück und auf die Landstraße und mit hundert auf und davon. Wir mussten nicht lange darüber diskutieren, was als Nächstes zu tun wäre.
In einem Waldstück fanden wir einen Parkplatz, wo Leute ihre Autos abstellten, um spazieren zu gehen. Und es standen glücklicherweise ziemlich viele Autos dort, denn es war gar nicht so leicht, eins zu finden, wo man die Nummernschilder abschrauben konnte. Die meisten hatten überhaupt keine Schrauben. Was wir schließlich fanden, war ein alter VW Käfer mit Münchner Kennzeichnen. Dem machten wir im Gegenzug unsere Kennzeichen an, in der Hoffnung, dass er's niht so schnell merken würde.
Dann rasten wir ein paar Kilometer auf irgendwelchen Schleichwegen durch die Felder, bevor wir ein einen riesigen Wald einbogen und den Lada auf einem verlassenen Sägewerksgelände abstellten. Wir packten unsere Rucksäcke und wanderten durch den Wald.
Wir hatten nicht die Absicht, den Lada schon im Stich zu lassen, aber trotz Nummernschildwechsel war uns nicht ganz wohl bei der Sache. Es schien uns das Klügste, den Wagen erst mal eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen. Vielleicht ein, zwei Tage im Wald verbringen und später wieder vorbeigucken, das war der Plan. Wobei - ein richtiger Plan war das auch nicht. Wir wussten ja nicht mal, ob sie wirklich nach uns gesucht hatten. Und ob sie uns in ein paar Tagen nicht mehr suchen würden.
Unser Weg führte die ganze Zeit bergauf, und oben lichtete sich der Wald. Es gab eine kleine Aussichtsplattform mit einer Mauer drumrum undeinen ziemlich tollen Blick über das Land. ber das Tollste war ein kleiner Kiosk, wo man Wasser kaufen konnte und Schokoriegel und Eis. Da mussten wir also schon mal niht verhungern, und deshalb blieben wir auch in der Nähe von diesem Kiosk. Nicht weit den Berg runter lag eine abschüssige Wiese, und da fanden wir einen stillen Platz hinter riesigen Holunderbüschen. Wir legten uns in die Sonne und dösten, und so verbrachten wir den Tag. Für die Nacht deckten swir uns noch mal mit ordentlich Snickers und Cola ein und krochen dann in unsere Schlafsäcke und hörten die Grillen zirpen. Den ganzen Tag über waren Wanderer, Fahrradfahrer und Busse vorbeigekommen, um die Aussicht zu genießen, aber als es dämmerte, kam neimand mehr, und wir hatten den ganzen Berg für uns. Es war immer noch warm, fast zu warm, und Tschick, der es am Ende mit reichlich Gel im Haar geschafft hatte, zwei Bier aus dem Kioskbesitzer rauszuleiern, öffnete die Flaschen mit dem Feuerzeug.
Die Sterne über uns wurden immer mehr. Wir lagen auf dem Rücken, und zwischen den kleinen Sternen tauchten kleiner auf und zwischen den kleineren noh klenere, und das Schwarz sackte immer weiter weg.
"Das ist Wahnsinn", sagte Tschick.
"Ja", sagte ich, "das ist Wahnsinn."
"Das ist noch viel besser als Fernsehen. Obwohl Fernsehen auch gut ist. Kennst du Krieg der Welten?"
"Logisch."
"Kennst du Starship Troopers?"
"Mit den Affen?"
"Mit Insekten."
"Und am Ende so ein Gehirn? Der riesige Gehirnkäfer mit so - mit so schleimigen Dingern?"
"Der ist Wahnsinn."
"Ja, der ist der Wahnsinn."
"Und kannst du dir vorstellen, irgendwo da oben, auf einem dieser Sterne - ist es genau so! Da leben wirklich Insekten, die sich gerade in dieser Sekunde eine Riesenschlacht um die Vorherrschaft im Weltall liefern - und keiner weiß davon."
"Außer uns", sagte ich.
"Außer uns, genau."
"Aber wir sind die Einzigen, die das wissen. Auch die Insekten wissen nicht, dass wir das wissen."
"Mal im Ernst, glaubst du das?" Tschick stützte sich auf den Ellenbogen und sah mich an. "Glaubt du, da ist noch irgendwas? Ich mein jetzt nicht unbedingt Insekten. Aber irgendwas?"
"Ich weiß nicht. Ich hab mal gehört, dass man das ausrechnen kann. Es ist total unwahrscheinlich, dass es was gibt, aber alles ist eben auc unendlich groß, und total unwahrscheinlich mal unendlich gibt dann eben doch eine Zahl, also eine Zahl von Planeten, wo's was gibt. Weil, bei uns hat's ja auch geklappt. Und irgendwo sind garantiert auch Rieseninsekten da oben."
"Das ist genau meine Meinung, genau meine Meinung!" Tschick legte sich wieder auf den Rücken und schaute angestrengt hoch. "Wahnsinn, oder?", sagte er.
"Ja, Wahnsinn."
"Mich reißt's gerade voll."
"Und kannst du dir das vorstellen: Die Insdekten haben natürlich auc ein Insektenkino! Die drehen Filme auf ihrem Planeten, und irgendwo im Insektenkino schauen sie sich gerade einen Film an, der auf der Erde spielt und von zwei Jungen handelt, die ein Auto klauen."
"Und es ist der totale Horrorfilm!", sagte Tschick. "Die Insekten ekeln sich vor uns, weil wir überhaupt nicht schleimig sind."
"Aber alle denken, es ist nur Science-Fiction, und in Wirklichkeit gibt's uns gar nicht. Menschen und Autos - das ist für die totaler Quatsch. Das glaubt bei denen keiner."
"Außer zwei jungen Insekten! Die glauben das. Zwei Junginsekten in der Ausbildung, die haben gerade einen Armeehelikopter entführt und fliegen über dem Insektenplaneten rum und denken genau das Gleiche. Die denken, dass es uns gibt, weil wir ja auch denken, dass es sie gibt."
"Wahnsinn!"
"Ja, Wahnsinn."
Ich schaute in die Sterne mit ihrer unbegreiflichen Unendlichkeit, und ich war irgendwie erschrocken. Ich war gerührt und erschrocken gleichzeitig. Ich dachte über die Insekten nach, die jetzt fast sichtbar wurden auf ihrer kleinen, flimmernden Galaxie, und dann drehte ich mich zu Tschick, und er guckte mich an und guckte mir in die Augen und sagte, dass das alles Wahnsinn wäre, und das stimmte auch. Es war wirklich ein Wahnsinn.
Und die Grillen zirpten die ganze Nacht.